Verhaltensbeeinflussung ist keine Erziehung

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  • Jetzt verstehe ich noch genauer, was Du meinst! Mein Eindruck ist, dass versteckt und freundlich rübergebrachte Manipulation gewöhnlich auf deutlich mehr Akzeptanz stößt, weil sie weniger greifbar und vordergründig nicht autoritär ist. Wer möchte sich schließlich gerne nachsagen lassen, eine Affinität zu autoritärer Pädagogik zu haben? Wie viele Eltern sind so ehrlich mit sich selbst?


    Hermine Ich fühle mich selbst dafür verantwortlich, meine Wünsche zu erfüllen und freue mich natürlich auch, wenn jemand anderes das tut, aber genauso kann jemand das ablehnen. Ich mache auch Vorgaben und bin darum bemüht, deren Einhaltung durchzusetzen. Ich mag so mäßig versteckte, in Euphemismen verpackte Manipulation nicht gerne, und deshalb käme es mir nicht in den Sinn, Vorgaben als Wünsche zu bezeichnen. Wird es so verständlicher?

    • Offizieller Beitrag

    Ich wünsche mir, dass du dein Zimmer aufräumst? Ja, das kann ich nachvollziehen. (Wobei das Beispiel doof ist, da es so offensichtlich ist. Aber mir fällt nix Besseres ein).

    Hermine und drei Jungs (04, 07 und 09)

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    demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen

    Willy Brandt, 1969

  • Hm, Erziehung als "Lebensstil" zu bezeichnen ist mir auch ziemlich fremd.

    Erziehung passiert für mich im Zusammenleben mit Kindern automatisch, indem ich versuche, meinen Kindern bestimmte Grundwerte, die mir wichtig sind, zu vermitteln. Dafür gibt es dann tausend verschiedene Varianten, wie ich das erreichen kann und je nach Situation reagiere ich instinktiv oder überlegt in der einen oder anderen Weise. Mal richtig, mal falsch. Aber nie mit dem Vorsatz: "Aber jetzt erziehe ich Dich mal richtig, Kind!"

  • Xenia

    Dann verstehe ich dich einfach völlig falsch.#hmpf

    Allerdings ging es doch um systematische Verhaltensbeeinflussung im Stil von „Du machst xy, du bekommst Abz“ versus „versteckte“ Manipulation, oder?

    Was ist denn für dich der Kern an dem Wasser Beispiel?


    ABA an sich ist ein Interessanter (für mich nur theoretischer) Ansatz.

    Aber diskutieren möchte ich das eigentlich auch nicht.

    Ich wollte nur deine Gedanken nachvollziehen und habe mich wohl zu sehr am Beispiel aufgehangen.

  • Ich hatte einen anstrengenden Tag, bin sehr müde und habe die letzten 7 Seiten nur überflogen #schäm. Kann also sein, dass mir der rote Faden des Threads völlig abhanden gekommen ist. Aber ich wollte noch was zu ein paar Punkten schreiben, die mir spontan ins Auge gesprungen sind (und, wie hier in Bayern gesagt wird, damit die Luft scheppert).

    kaonashi , ich weiß das selber nicht so genau, was ich mit diesem Thread eigentlich will. :D


    Ich glaube, hauptsächlich würde ich gerne verstehen, wieso viele Leute ganz normale Erziehung (wie in der Definition und in meinen Beispielen) unbedenklich oder sogar notwendig finden, es aber bedenklich finden, wenn man sich über gezielte Verhaltensbeeinflussung systematisch Gedanken macht.

    Deine Frage habe ich mir auch schon oft gestellt, eine Antwort habe ich leider nicht. Mein Eindruck ist, dass die Mehrheit der Eltern in meinem Umfeld Erziehung gemäß der von Dir angeführten Definition praktiziert und dies auch von anderen Eltern erwartet, ohne sich tiefer mit gezielter Verhaltensbeeinflussung befasst zu haben. Überspitzt formuliert: Es wird etwas in eine Blackbox gestopft und gehofft bzw. erwartet, dass das gewünschte Ergebnis herauskommt. Die Möglichkeit des Auftretens unerwünschter (Neben-) Wirkungen wird dabei häufig außeracht gelassen. Wirkt die Methode nicht, wird das Kind als defizitär betrachtet, nicht die Methode der Eltern.

    Das trifft sich in etwa mit meiner vermuteten Ursache.


    Normale Erziehung:

    "unbedenklich" = viele Leute denken einfach nicht über Erziehung nach (aus welchen Gründen auch immer)

    "notwendig" = viele Dinge erscheinen uns notwendig, weil sie althergebracht sind

    "gezielte Verhaltensbeeinflussung" - hier braucht es genaue Beispiele, weil meine Vorstellung darüber wohl eine ganz andere ist als du meinst (siehe weiter unten)


    Wenn ich mich mit meinen Schwiegereltern vergleiche, haben wir eine völlig unterschiedliche Auffassung von Erziehung. Ich stelle recht viel infrage und lasse meine Kinder bei Sachen gewähren, wo es sofort heißt, aber man kann doch nicht... Bei genauerem Nachdenken kann man aber doch, weil der Grund vieler althergebrachter Erziehungsregeln heutzutage weggefallen ist. "Man muss doch aufessen, wenn man zu Gast ist (und isst)!" Nein, muss man nicht. Wir haben keine (Nach)kriegszeit mehr, als man seine letzten Vorräte auf den Tisch brachte, man ist nicht mehr vor Hunger ausgemergelt, in anderen Kulturen geht es auch ohne aufessen (China), die Etikette ist nicht mehr ganz so streng und man kann seinen Dank auch anders ausdrücken.


    Ich finde immer, dass das, was man von den Kindern will, diesen auch logisch erscheinen muss. Wenn ich Zeit und Muße habe, dann rede ich kurz mit meinen Kindern, warum sie etwas nicht dürfen. Wenn ich gestresst bin, dann trickse ich sie so aus, dass sie es nicht merken oder aber sage einfach, dass es jetzt nicht geht, weil... (und mache gelegentlich auch Vorschläge für eine spätere Umsetzung des Gewollten). Da sie anscheinend wissen, dass es mir in einem solchen Moment Ernst ist, klappt das auch hervorragend. Spricht also vermutlich für eine gute Bindung. Sie wissen, dass ich eigentlich nie etwas verbiete, weil "ich das nicht will" oder "man das so nicht macht".

    Hier wollte ich nur anmerken, dass meine Verhaltensbeeinflussung komplett anders gestaltet ist. Weil ich irgendwo auf Seite 1 geschrieben hatte, dass ich Verhaltensbeeinflussung per se nicht schlecht finde und anwende. Das oben genannte Beispiel ist Erpressung, denn das Kind hat ja anscheinend nicht wirklich eine andere Wahl. Wo steht geschrieben, was das Kind machen kann, wenn es weder das Wasser trinken noch das Spiel ausprobieren möchte? Darf es den Raum verlassen und mit anderen Spielsachen weiterspielen? Und noch wichtiger, das Kind klingt für mich auffällig im Verhalten. Ich kenne mich da nicht aus, würde aber vermuten, dass man hier vielleicht anders herangehen muss als bei im Verhalten unauffälligen Kindern. Denn, was sind die Gründe dafür, dass es nur Schokomilch trinkt? Es muss ja zumindest ein triftiger Grund dahinterstecken, weil niemand 2 Jahre lang nur dasselbe trinkt. Und das mal eben mit Gewalt abstellen zu wollen, kommt mir ganz falsch vor.


    Ich kenne ein Kind, welches nicht mit familienfremden Personen spricht. Die Eltern des Kindes bekommen immer wieder gesagt, sie müssen doch ihr Kind dazu anhalten, dass man zurückgrüßt/antwortet, wenn man gegrüßt/gefragt wird. Tja, so einfach ist es aber nicht. Die Eltern tun das durchaus und beständig. Dann wird gesagt, man muss es halt mit Druck durchsetzen. Die Eltern, der Kinderarzt und der Psychologe sind sich sicher, dass würde gar nichts bringen, sondern das Problem nur verschärfen. Das Kind möchte wohl sogar antworten, aber in diesen Momenten ist einfach eine Blockade da, die lähmt. Elektiver Mutismus. Tja, und die meisten Leute wollen das gewünschte Verhalten einfach nur schnell aus ihm "rausprügeln". Ich frage mich immer, würde es antworten, wenn es eine (oder wiederholte) Ohrfeigen bekäme? Ich glaube nicht, denn die Blockade wäre immer noch da. Es würde weinen und zu allem Übel noch als verstockt und bockig hingestellt.

    Hm, aber der Grund für die christliche Erziehung ist doch normalerweise, dass die Eltern möchten, dass das Kind in den Himmel/zu Gott kommt, wenn es tot ist und somit, dass es glücklich wird (in seinem nachweltlichen Leben).

    OT: Mein Kind wird christlich erzogen, weil es hier Usus ist und weil ich für mich beschlossen habe, dass die übergeordneten Werte wie 'Du sollst nicht töten' usw. allgemeingültig für das Zusammenleben sind und ich damit im Reinen bin. Ich wöllte natürlich auch, dass es in den Himmel kommt und im nachweltlichen Leben glücklich ist, aber ich (Atheistin) bezweifle halt, dass es einen Himmel und nachweltliches Leben gibt.

    Aber wenn man an dem Punkt steht, dass man nicht auf die Beziehung bauen kann und nicht mit dem vorhandenen intelektuellen Potential des Kindes arbeiten kann (weil es nicht so funktioniert wie man sich das vorstellt), dann muss man sich eben Wege überlegen, wie man ohne diese intelektuelle Mitarbeit des Kindes auskommt.


    ...


    Aber das stößt auf wirklich riesige Ablehnung und Leute regen sich tierisch drüber auf. Auch Leute, die selber kein Problem mit versteckter emotionaler Erpressung haben, finden es ganz schlimm, wenn jemand mit offenen Karten ein Angebot in der Art: "du trinkst Wasser, ich geb dir das Spielzeug" macht.

    Ersteres: Ist das wirklich so, dass man eine Beziehung zu dem Kind braucht? Genauso, das intellektuelle Potential. Ich kann auch wildfremden Kindern recht gut, meinen Willen ohne Gewalt und Erpressung "aufdrücken". Funktioniert so wie bei meinen Kindern. Und bezüglich Intellekt kommt es wohl auf die Art und Schwere der Einschränkung an. Auch hier habe ich bisher gute Erfahrungen gesammelt. Allerdings hatte ich bisher nie mit Autisten zu tun und stelle mir das in der Tat schwierig vor.


    Zweiteres: Prinzipiell kann ich mir eine gewisse Art der Erpressung vorstellen. Wenn es schnell gehen muss und ich keinen Nerv habe, erpresse ich meine Kinder auch mal geringfügig. Aber das sind halt nicht so elementare Sachen wie Trinken und Spielen. Trinken, Essen, Schlafen, Spielen und emotionale Zuwendung sind für ein Kind doch ein Rahmen, an dem ich von meinem Gefühl her nicht wagen würde zu schrauben. Also wenn, dann nur, wenn das Kind auch wirklich gute Alternativen hat. Das, was Brina Berlind zu dieser Art Therapie schreibt, macht mir Angst. Das geht doch etwas kaputt im Kind, oder nicht?

    Das Wissen von heute ist der Irrtum von morgen.

  • Xenia, ich weiß nicht, warum Du Dich die gesamte Zeit so gegen den Erziehungsbegriff sperrst bzw. warum Du ihn so negativ besetzt. Eigentlich ist er (in meinen Augen) erst einmal neutral lesbar. Erziehung als soziales Handeln, welche bestimmte Lernprozesse bewusst und absichtlich herbeiführen und unterstützen will, um dauerhafte Veränderungen des Verhaltens zu erreichen. Dabei können die Vorstellungen über Erziehung selbst unterschiedlich sein: Einerseits das schon genannten "Erziehung als bewusstes Einwirken", dem gegenüber die schon von Rousseau geforderte Auffassung des "Wachsenlassens" des zu Erziehenden.


    Deine Werkzeuge wären die sogenannten Erziehungsmittel bzw. Erziehungsmaßnahmen. Und ja, diese sind durchaus streitbar, ebenso das Bild vom Kind, was die Wahl der Mittel und Maßnahmen des "Erziehers" wiederum beeinflusst. Das operante Konditionieren (mit positiven Verstärkern), was Du hier als Schokomilch-Beispiel anbringst, gehört u.U. ebenso dazu wie das Lernen am Modell, was der Aufassung des Wachsenlassens nahekommt.

    Dein Unverständnis (rot gefettet) kann ich nachvollziehen, verstehe aber nicht den Zusammenhang zur Ausgangsfrage.

    Verhaltensbeeinflussung ist definitv Teil von Erziehung, wobei Erziehung mehr ist als nur Verhaltensbeeinflussung.


    Woran ich noch hänge: Du bezeichnest Erziehung als unnötig und sinnlos - machst jedoch bei den gefetteten Teilen deines Textes in meinen Augen nichts anders als eben "zu Erziehen".


  • Xenia, ich weiß nicht, warum Du Dich die gesamte Zeit so gegen den Erziehungsbegriff sperrst bzw. warum Du ihn so negativ besetzt.

    Du hast die Definition weiter oben gelesen, die ich verwende?


    Ich finde es sehr hilfreich, den allgemeinen "Leben mit Kindern"-Teil abzugrenzen von dem "Formen nach meinem Bild"-Teil. Wenn man jegliche Interaktion mit Kindern "Erziehung" nennt, kann man natürlich nicht mehr gegen Erziehung sein. Aber man hat auch keine Grundlage mehr, sich darüber Gedanken zu machen, welcher Teil der Interaktion gut ist und welcher nicht.


    Ich behaupte mal, dass Eltern, die sich rechtzeitig von Erziehung losgesagt haben (egal ob unter Verwendung des Wortes oder nur des Inhaltes) in der Pubertät mindestens eine Großkampfstelle weniger haben.


    ----

    Fortsetzung folgt.

  • Da gebe ich dir recht, denn ob erziehung oder nicht: in der pubertät rennen sie doch alle zu mac doof :wacko:

    ****Glitzer mit der schnecke (05/06), dem bär (11/08 ), dem hulk (06/13) und findus (04/17) #love ****

  • Also darf man nur den Teil der Interaktion mit Kinder „Erziehung“ nennen, der nicht gut ist?

    Alles an „positiver“ Interaktion bekommt einfach einen neuen Namen verpasst. Und letztlich entscheidet jeder für sich selbst, was in die eine oder andere Kategorie gehört #confused.

  • Freda letztendlich entscheiden es die Kinder, ob man (zu viel) an ihnen rumerzogen hat.


    Du liest dich zutiefst verletzt, weil andere dich dafür verurteilen.

    Der Eindruck täuscht. Ich bin nicht persönlich betroffen und nicht zutiefst verletzt, sondern höchstens zutiefst genervt.


    Das Kind kann doch im Beispiel im Zweifel gar nicht anders, als Wasser trinken, der Druck ist hoch. Keine Ahnung, es klingt mir so, als würde im Anschluss auch gut ein "du hast es dopch selbst so gewählt, du wolltest das Spielzeug und hast dich für das Wasser entschieden" kommen.

    Nein. Ein solche Bemerkung wäre wirklich extrem dumm. Das würde das Kind als feindlich empfinden. Ich weiß nicht, ob du das Video oder einen Ausschnitt gesehen hast, aber die Therapeutin ist wirklich die ganze Zeit sehr freundlich und entweder zugewandt oder neutral. Nicht feindlich, nie schnippisch.



    Ich schreibe jetzt doch noch was zur Einordnung dieses Schokomilch-Beispiels.


    Ich habe ja schon erwähnt, dass die Zielgruppe von ABA-Anbietern durchaus Eltern sind, die ihre autistischen Kinder gerne erziehen wollen und dabei scheitern. Ich kenne nicht alle Anbieter, aber ich weiß, dass der Schokomilch-Beispiel-Anbieter durchaus die Eltern in eine vernünftige Richtung berät. Es wird dort zum Beispiel definitiv nichts abtrainiert, was einfach nur unschön ist oder unnormal aussieht.


    Dieses Schokomilch-Beispiel ist aus einem Lehrvideo, in dem gezeigt wird, dass man eben auch ohne diesen ganzen Fiesheiten auskommen kann, die Brina in ihrem Beitrag behauptet hat (also ohne Kind an den Tisch zwingen, ohne unfreundlich zu werden, ohne dass sich das ganze über Stunden hinzieht und ohne dass es das Kind überhaupt als Arbeit empfindet).


    Es muss ja zumindest ein triftiger Grund dahinterstecken, weil niemand 2 Jahre lang nur dasselbe trinkt. Und das mal eben mit Gewalt abstellen zu wollen, kommt mir ganz falsch vor.


    Wer als Eltern in so einer Situation wie im Schokomilch-Beispiel gelandet ist, hat vorher schon Fehler gemacht. Und es war auch ganz sicher nicht der erste Versuch von Seiten der Eltern, ein neues Getränk einzuführen.


    Kurt und Karin Kloeters schreiben, dass es auf ein paar Tausend Erziehungsfehler mehr oder weniger überhaupt nicht ankommt. Das ist für neurotypische Kinder sicher richtig, aber bei autistischen Kindern kann ein einziger Fehler an einer entscheidenden Stelle dazu führen, dass man in so einer Schokomilch-Situation landet. Aufgrund der Altersangaben würde ich mal ins Blaue raten, dass der Startpunkt direkt beim Abstillen war. Dass die Mutter nicht vorher bei den Raben langzeitstillradikalisiert worden ist ;) und gedacht hat, es sei ihre Aufgabe jetzt abzustillen, und der Preis war dann halt die Schokomilch.


    Wenn man ein Problem dieser Größenordnung lösen will, dann sollte man nicht derjenige sein, der es vorher mitverursacht hat. Also das ist definitv nichts, was die Eltern selber machen sollten. Und da ist dann auch kein Platz für "was, wenn das Spielzeug nicht interessant gewesen wäre". Man muss sich sicher sein, dass das Spielzeug wirklich extrem attraktiv ist für das Kind, bevor man das Kind in diese Situation bringt.


    Also: Das ist nicht Alltag, sowas macht auch der nach ABA arbeitende Autismustherapeut nicht täglich, sondern das ist die große Ausnahme.


    Warum bleibt das Kind am Tisch, im Raum?

    Es bleibt nicht im Raum. Soweit ich mich erinnere, läuft es in dem Video sogar zwischendurch weg. Aber die ganzen interessanten Spielsachen und die Bezugspersonen sind am Tisch und beim Wasserglas, es hat also selber die Motivation, zurückzukommen.

    Ich kenne ein Kind, welches nicht mit familienfremden Personen spricht. Die Eltern des Kindes bekommen immer wieder gesagt, sie müssen doch ihr Kind dazu anhalten, dass man zurückgrüßt/antwortet, wenn man gegrüßt/gefragt wird.

    Schlimm. Ja, es gibt Leute, die noch nie was von selektivem Mutismus gehört haben. Möglicherweise kann man da mit Verhaltenstherapie dran arbeiten, aber ganz sicher nicht gegen den Willen des Kindes und ganz sicher nicht durch "fordert das Kind mal auf" oder "dann musst du es halt zwingen".


    Ich glaube, der Punkt ist, dass irgendwelche magisch wirkenden Tricks genau dann funktionieren, wenn das Problem durch einen Erziehungsfehler bzw. durch ein Problem in der Interaktion mit Bezugspersonen entstanden ist. Dann reicht eine klare Haltung und ein klares Angebot.


    Ersteres: Ist das wirklich so, dass man eine Beziehung zu dem Kind braucht? Genauso, das intellektuelle Potential. Ich kann auch wildfremden Kindern recht gut, meinen Willen ohne Gewalt und Erpressung "aufdrücken". Funktioniert so wie bei meinen Kindern. Und bezüglich Intellekt kommt es wohl auf die Art und Schwere der Einschränkung an. Auch hier habe ich bisher gute Erfahrungen gesammelt. Allerdings hatte ich bisher nie mit Autisten zu tun und stelle mir das in der Tat schwierig vor.

    Meine These war: Du brauchst eins von beiden. Entweder eine Beziehung oder intellektuelle Mitarbeit.


    Wenn du als Erwachsene mit einem Kind sprichst, kannst du aber auch nicht davon ausgehen, dass es für das Kind eine Kommunikation "ohne Gewalt" ist. Du bist schließlich erheblich stärker und erfahrener, du könntest dem Kind mächtig Ärger machen, wenn du es drauf anlegst.

  • Xenia

    Danke für deine Antwort. So langsam wird mir, glaube ich, klarer, worum es gehen soll.

    Meine These war: Du brauchst eins von beiden. Entweder eine Beziehung oder intellektuelle Mitarbeit.

    Ja, das kann ich so unterschreiben, denke ich. Manchmal sogar beides. #zwinker

    Erziehung ist "ich überlege mir, wie mein Kind sein soll, und arbeite darauf hin".

    Besser finde ich: "Ich schaue mein Kind an und überlege mir, was es braucht."

    Und auch hier kann ich dir zustimmen.


    Aber die ganzen interessanten Spielsachen und die Bezugspersonen sind am Tisch und beim Wasserglas, es hat also selber die Motivation, zurückzukommen.

    Das heißt also, die Basis dieser Verhaltensbeeinflussung ist Beziehung?!

    Warum brauche ich dann einen Therapeuten, der weniger Beziehung zum Kind hat?

    Ich glaube, der Punkt ist, dass irgendwelche magisch wirkenden Tricks genau dann funktionieren, wenn das Problem durch einen Erziehungsfehler bzw. durch ein Problem in der Interaktion mit Bezugspersonen entstanden ist. Dann reicht eine klare Haltung und ein klares Angebot.

    Aber diese klare Haltung können doch auch die gewohnten Bezugspersonen erreichen.

    Das geht doch in eine ähnliche Richtung, wie die üblichen "nächtliches Abstillen nach Gordon" Geschichten.


    Kurt und Karin Kloeters schreiben, dass es auf ein paar Tausend Erziehungsfehler mehr oder weniger überhaupt nicht ankommt. Das ist für neurotypische Kinder sicher richtig, aber bei autistischen Kindern kann ein einziger Fehler an einer entscheidenden Stelle dazu führen, dass man in so einer Schokomilch-Situation landet.

    "Fehler" ist vielleicht das falsche Wort.

    Das Problem ist an dieser Stelle die Kommunikation, veränderte Wahrnehmung des Kindes und dessen Schwierigkeiten, den Kontext einer Regel zu erkennen.

    "Heute gibt es ausnahmsweise mal ein Eis, weil xyz" ist tatsächlich kaum möglich.

    Aber auch damit kann man anders umgehen, wenn man den Fehler erkannt hat.

    Das ist nur ein riesiger Haufen Arbeit für die Bezugspersonen, so wohl emotional als auch zeitlich und andere Ressourcen betreffend.

    Und da ist dann auch kein Platz für "was, wenn das Spielzeug nicht interessant gewesen wäre". Man muss sich sicher sein, dass das Spielzeug wirklich extrem attraktiv ist für das Kind, bevor man das Kind in diese Situation bringt.

    Okay. Jetzt weiß ich, warum ich mich bisher nicht noch näher mit dem Thema beschäftigt habe. :D

    Ich habe mir das Video eben extra noch mal raus gesucht und auch noch mal mit meinem Mann diskutiert.

    Wir sehen da was anderes als du. Das hängt aber mit Sicherheit an unserer anderen Familienkonstellation und entsprechenden Erfahrungen.


    An dieser Stelle noch kurz, weil du weiter oben Kloeters zitiert hast: "Tröste dein Kind wenn es weint." und "Achte auf den Gesichtsausdruck deines Kindes."


    Was mir an diesem Video übrigens besonders aufstößt, ist die extrem schnelle Gangart ohne eine Vorhersehbarkeit für das Kind herzustellen. (Autisten benötigen ein paar mehr Wiederholungen.)

    Und mir bleibt der dauerhafte Lerneffekt unklar. Wie viel Tage/Wochen später trinkt das Kind ausreichend Wasser ohne Verstärker?


    Das Video davor und das danach erscheinen mir übrigens die besseren Beispiele.


    Was mir aber immer noch irgendwie fehlt, ist der praktische Bezug zum normalen Elterndasein. Die üblichen Schwierigkeiten mit unseren Kindern ergeben sich ja selten am Tisch und mit dem passenden Verstärker in der Tasche.


    Um es noch mal ganz deutlich zu sagen: Alle deine Grundaussagen kann ich durchaus unterschreiben. Ich bin mir auch relativ bewusst darüber, dass Lernen über Konditionierung funktioniert und ständig im Alltag vorkommt.

    Ich habe nur ein Problem damit, in welcher Intensität es in diesem Video passiert und dass mir bei diesem Format der dauerhafte, sich irgendwann selbst entwickelnde Lernerfolg fraglich scheint.

  • Das heißt also, die Basis dieser Verhaltensbeeinflussung ist Beziehung?!

    Warum brauche ich dann einen Therapeuten, der weniger Beziehung zum Kind hat?

    Nein, die Basis ist nicht Beziehung. Aber die Herstellung einer Beziehung ist immer ein Ziel. Wenn eine Beziehung vorhanden ist, spielt die natürlich dann auch eine Rolle.


    Den brauchst den Therapeuten nicht generell, sondern nur wenn du ein Problem hast, was du ohne ihn nicht gelöst kriegst. Weil er Überblick hat und weil er nicht Teil des Systems ist. Und weil er sich in Ruhe eine klare Linie überlegen kann, ohne vom Alltagsgeschäft aus der Bahn geworfen zu werden.

    Ich habe mir das Video eben extra noch mal raus gesucht und auch noch mal mit meinem Mann diskutiert.

    Wir sehen da was anderes als du. Das hängt aber mit Sicherheit an unserer anderen Familienkonstellation und entsprechenden Erfahrungen.


    An dieser Stelle noch kurz, weil du weiter oben Kloeters zitiert hast: "Tröste dein Kind wenn es weint." und "Achte auf den Gesichtsausdruck deines Kindes."

    Wenn in eurer Familie solche Ausbrüche ein ungewöhnliches Ereignis sind oder überhaupt nicht vorkommen, dann sieht das natürlich etwas schockierend aus. Aber glaub mir, es gibt diese Autisten vom Typ Rainmain in real. Es gibt Kinder, die sich so lange in die Hand beißen und rumbüllen, bis die Waschmaschine nach 90 Minuten wieder fertig ist und das neugekaufte Kleidungsstück her gibt. Und dann gleich nochmal, weil es nass rauskommt.


    Wenn man ein Kind hat, das etwas rustikaler auf Frustrationen reagiert, dann sieht das halt nachher nicht so gut aus auf Videoaufnahmen. Aber wenn man kein solches Kind hat, gehört man halt auch nicht zur Zielgruppe dieses Videos.


    Im übrigen vermute ich mal, dass man auch das "Abstillen nach Gordon" nur so lange als human verkaufen kann, solange man keine bewegten Bilder dazu liefert.

    Ich finde nicht, dass da Vorhersehbarkeit fehlt. Es gehört nicht zu den Diagnosekriterien für Autismus, ein paar mehr Wiederholungen zu benötigen, und deswegen stimmt auch die Aussage nicht, dass Autisten ein paar mehr Wiederholungen brauchen würden. Das Kind aus dem Video hat vermutlich keinen erhöhten Bedarf nach Wiederholungen.


    Was den dauerhaften Lerneffekt betrifft: Ich nehme an, das ist selbstverstärkend. Das Kind hatte aufgrund von unglücklichen Umständen ein "ich trinke nur Schokomilch" in sein Selbstbild integriert. Einmal zu viel nach dem Lieblingsgetränk gefragt und schwups...

    Wenn es jetzt dieses Dogma aufgegeben hat, kann es genauso wie du und ich Wasser gegen den Durst trinken und dabei feststellen, dass das sehr praktisch ist, wenn man Durst hat aber satt ist. Oder wenn es keine große Auswahl an Getränken gibt.


    Der Bezug zum normalen Elterndasein:


    Man kann sich, wenn man vom Kind was will, überlegen, wie man das so machen kann, dass es im Interesse des Kindes liegt.


    Also nicht mit Machtausübung ("mach das, sonst brülle ich rum" oder in zivilisierter "mach das bitte, dann freue ich mich") arbeiten, sondern damit, dass man die Rahmenbedingungen entsprechend gestaltet. Letzteres erfordert natürlich mehr Mühe und mehr Hirnschmalz.

  • Darf ich für mich diesen Satz


    Man kann sich, wenn man vom Kind was will, überlegen, wie man das so machen kann, dass es im Interesse des Kindes liegt.


    mal fett als Notiz hier lassen?

    Ich mach das das so, schon immer und in ganz vielen Fällen.

    Bin ich böse manipulativ? Verstecke ich Erpressungen? Oder sorge ich für geschmeidige win-win-Situationen?

    Mit meiner Pubertöse gibt das so manches interessantes Gespräch über diese Themen.

  • Hier genauso. So habe ich intuitiv vor Jahren mit der Erziehung meiner Ältesten angefangen und führe es weiterhin fort, da diese Art der Manipulation in unserer Familie sehr gut passt und voll funktioniert. Das ist es auch, was ich mit Manipulation meine. Nichts Niederträchtiges, sondern einfach die gewünschten Verhaltensweisen plausibel dem Kind verkaufen. Bei kleinen Kindern klappt das gut. Ob es bei pubertierenden Kindern klappen wird, muss ich erst sehen. Angreifbar ist dieses System nämlich durch zunehmendes Verhandlungsgeschick auf Seiten des Kindes, also wenn es mehr und bessere Argumente findet, die meine Argumente irgendwann aushebeln werden. Ach, manchmal freue ich mich schon auf die kommenden Diskussionen...

    Das Wissen von heute ist der Irrtum von morgen.