Liebe Raben,
mein Sohn ist 10, ein ziemlich cleverer Bursche, möchte ich behaupten, sprachlich schon immer sehr weit gewesen und bis heute ein "Redner". Argumentiert Erwachsene an die Wand und kann dabei ausgesprochen manipulativ sein, um seine Ziele zu erreichen. (Was mich manchmal sehr stolz macht und dann wieder zur Verzweiflung treibt, aber das ist ein anderes Thema ...)
Im Allgemeinen sehr souverän, gewitzt, beliebt, er hat viele Freunde.
Sein großes Problem ist seine Frustrationstoleranz. Sieht er in Verhandlungen keine Chance, wird er binnen eines Wimpernschlags zum Vollblutcholeriker, pöbelt, schimpft, schmollt oder verletzt verbal - was am schlimmsten ist, da er das leider fantastisch beherrscht und rücksichtslos in die wundeste Kerbe haut, die sein Gegenüber hat. Er ist eigentlich sehr sensibel und erkennt solche "schwachen Stellen" sehr schnell und genau (vielleicht zu gut für sein Alter), reagiert dann äußerst mitfühlend - und schlägt in seiner Wut dann trotzdem genau dort zu.
Frust hat er aus den unterschiedlichsten Gründen:
- in der Schule Mühe gegeben und doch keine gute Note erreicht
- etwas nicht gemacht (vergessen oder keine Lust) und dafür ermahnt werden
- beim Fußball nicht gewonnen
- ...
Mein größtes Problem: Es sind bei ihm immer die anderen Schuld. Immer. Er gibt erst dann Ruhe, wenn alle Welt einsieht, dass ausschließlich jemand anders Schuld hat - das ist aber in vielen Fällen einfach nicht so.
Beispiel heute: Fußballturnier. Seine Mannschaft hat den zweiten Platz belegt, nach einem ausgeglichenen Finalspiel hatten die anderen beim Elfmeter einfach den Hauch mehr Glück. Sohn hat den entscheidenden letzten Elfer verschossen - okay, das ist immer bitter, es hat ihm aber keiner einen Vorwurf gemacht; die Freude über den zweiten Platz war allgemein groß.
Sohn allerdings war stinksauer bis völlig verzweifelt und zwar wegen irgendeines Fouls (nicht mal wirklich Absicht) während des Spiels, das in keiner Weise tor- oder spielrelevant war. Wollte er nicht einsehen. Nein, das Spiel wurde nur verloren, weil "der Arsch ihn gefoult hatte". Der "Arsch" war in seiner Perspektive übrigens viel größer als er - in Wahrheit war der Junge sogar etwas kleiner als mein Sohn
Sowas haben wir ständig. Immerhin sind inzwischen nicht mehr die Mitspieler schuld (das war zu Anfang ein großes Problem) sondern grundsätzlich Schiedsrichter oder Gegenspieler (immer nahezu übermenschlich stark ODER Brutalos) oder beide.
Klassenarbeit nicht so wirklich befriedigend? - Klassenkameraden schuld, die waren zu laut.
Zimmer trotz Versprechen nicht aufgeräumt? - Schwester schuld, die hat gestört.
Hausaufgaben vergessen? - Lehrer schuld, der hat das nicht richtig gesagt. Oder: Mutter schuld, die wollte zu viel Hilfe und es blieb gar keine Zeit mehr. ( )
Ausreden über Ausreden. Ich könnte es verstehen, wenn er Druck bekäme und sich dem entziehen müsste. Wenn er beschuldigt werden würde und diese Schuld dann abwälzt. Aber so ist es nicht, man kann ihn komplett freundlich und voller Verständnis ansprechen - er geht hoch wie eine Rakete und wirft mit Vorwürfen um sich, um selbst mit blütenreiner Weste dazustehen. Und, ja, buchstäblich als "Opfer". Dabei ist er überhaupt kein Opfertyp.
Habt ihr Ideen? Geht das von alleine weg? Wann?