vielleicht hilft ja eine ganz weit ausholende erklärung: viele märchen verwenden als figuren meistens nicht personen mit unterschiedlichen anteilen an gut und böse oder psychologischen entwicklungen, sondern sie sind charaktere. das heißt sie sind nicht wie menschen aufgebaut, sondern als ...vertreter... bestimmter verhaltensweisen. das ist ähnlich in fabeln schon angelegt, wo die tiere imgrunde nur vertreterfiguren bestimmter eigenschaften sind: fuchs ist schlau, frosch ist eher weniger klug, storch hat nen langen schnabel... all diese figuren sind nichts als diese eigenschaften. entsprechend sind in traditionellen märchen bestimmte figuren quasi immer nur vertreter von bestimmten seiten von gut und böse mit bestimmten fähigkeiten. das kann man sich wie pappschilder vorstellen, auf denen bei einem bestimmten 'namen' immer dieselben dinge drunter stehen
Aus kulturhistorischer Sicht ist der Ansatz gar nicht so verkehrt. Allerdings muss man das Ding umdrehen. Im Grunde muss man sogar schon die Frage umdrehen, denn es gibt ja nicht einen großen Plan, nach dem bestimmte Gschichten so und so laufen müssen und bestimmte Figuren, um mit Barney zu sprechen, zwingend bestimmte Papptafeln halten müssen, damit... irgendeine verborgene Absicht erfüllt wird, die wir entschlüsseln könnten. Sondern diese Geschichten wurden und werden ja immer von Menschen erdacht und aufgeschrieben, Menschen unterschiedlicher Zeiten, unterschiedlicher Bildung, unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Absichten.
Um das jetzt wieder ein bisschen kleiner zu bröseln wie bei der Hexe im Märchen, bleiben wir doch mal bei denen:
Als die ältesten Märchen, die uns allen so einigermaßen bekannt sein dürften, können wir die "Kinder- und Hausmärchen" von Jacob und Wilhelm Grimm ansehen. Die beiden haben diese Märchen aber nicht erfunden, sondern sie haben sie gesammelt, über "Gewährsleute", die ihrerseits solcherart Geschichten gesammelt und aufgeschrieben haben. Die Idee, überlieferte Texte und altes Wissen zu sammeln, ist eine zutiefst ihrer Zeit, der Romantik verwurzelte. Warum das so war und welche Bedeutung das für uns heute hat, würde hier viel zu weit führen, es reicht zu schreiben, dass damals gewissermaßen die Grundlagen für die heutige Geisteswissenschaft gelegt worden sind.
Die gesammelten Märchen sind viel, viel älter (zwischen roundabout 1810 und den späten 1850ern gesammelt) und von jedem Erzähler vermutlich mit woanders aufgespießten Motiven weiterentwickelt worden. So manches, was die Grimms ausgegraben hatten, war nicht (mehr) richtig stringent, dafür literarisch-strukturell verkorkst und oder sprachlich daneben. Sie haben das geglättet, korrigiert und ihrer Zeit und ihrer Denkweise angepasst; das Material, was sie hatten, ist heute nur noch in Fragmenten zugänglich, sodass ein vollständger literaturwissenschaftlicher Vergleich fehlt. Heraus kam die erste größere und in Folge absolut stilbildende Sammlung von vermutlich ursprünglich schon weit verbreiteten Erzählungen, die nun gewisse vereinheitliche Elemente trugen, etwa den Dreischritt, d.h., der erste und zweite Versuch, Schneewittchen zum Apfelessen zu überreden, schlägt fehl, der dritte aber gelingt. (Jeder gute Witz funktioniert so - das ist heute ein Strukturmerkmal unserer Kultur, aber kein Naturgesetz). Auch die Hexe etwa wird zu einem Archetypus mit festgelegten Attributen. Solche Figuren gibt es auch früher, aber die Hexe ist speziell bei den Grimmbrüdern besonders einheitlich gestaltet. Man kann da in die Interpretation durchaus das Frauenbild der Zeit mit einbeziehen bzw. was speziell die Grimmbrothers von selbstbewussten alten Frauen so hielten. In Märchen anderer Kulturkreise (und das muss nicht weit weg sein, in Skandinavien etwa) sind die alten Frauen oft die Klugen, die weisen Ratgeberinnen.
Ich lass das so mal stehen.
Ein Hinweis noch: Die Grimm-Märchen sind Weltliteratur. Für Kinder sind sie nach meinem Dafürhalten NICHT geeignet, auch, wenn KINDER- und Hausmärchen draufsteht - auch der Struwwelpeter war eine Zeitlang als Erziehungsliteratur gedacht, heute schütteln sich selbst nicht rabig denkende Eltern. Wäre eine andere Diskussion: Gibt es überhaupt Kinderliteratur? Bzw. ist das, was unter diesem Titel firmiert, wirklich als Literatur zu bezeichnen oder grundsätzlich erbaulicher Schrott? Wenn es gut ist, ist es Literatur, aber nicht mehr als "für Kinder" ausgewiesen...
My two cents.