Geschichte: Logistik der D-Mark-Einführung in der DDR

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  • Was geschah da im Hintergrund mit den Betrieben?

    Ich erinnere mich daran, dass im Sommer 1990 die Läden immer leerer wurden und dann, am Tag der Währungsreform, vom einen auf den anderen Tag keine Ostartikel mehr zu kaufen waren. Alles war plötzlich in Westverpackungen, von der Milchsorte bis zur Zahnpasta mussten wir alles neu durchdenken und uns für ein Produkt entscheiden

    So jetzt von vorne. :) Leider hat sich ja noch niemand gemeldet und eigene Erfahrungen zu den Hintergründen in den Betrieben beisteuern können. Ich kann das leider auch nicht. Aber ich finde das Thema total spannend und habe noch ein bisschen gesucht.


    Zum immer leerer Werden der Läden habe ich das hier gefunden: Eine Dynamik aus Hamsterei und das Warten auf "bessere" Produkte:


    Zitat

    „Die Leute kauften alles auf, was man aufheben konnte und wofür ihnen die DM zu schade war“, erinnert sich Sybille Reider, die heute wie damals in der Nähe von Weißenfels in Sachsen-Anhalt lebt. Das gilt im verrückten Juni 1990 auch für Mehl, Salz, Öl und Kartoffeln. Aber nicht
    nur die Hamsterer reißen Lücken ins Angebot. Reihenweise bestellen die Läden einfach nichts mehr bei DDR-Herstellern. Sie haben Angst, die Produkte nach der Währungsunion nicht mehr loszuwerden. Denn nicht nur das Geld aus dem Westen hat die bessere Qualität. Das irrationale
    Verhalten der Kunden, die sich einerseits über Versorgungslücken beklagen, aber andererseits auch keine heimischen Waren mehr kaufen wollen, gibt dem Ganzen eine besondere Dynamik.


    So entsteht eine paradoxe Situation. Viele Betriebe bleiben auf ihren Erzeugnissen sitzen, während es in den Geschäften nichts zu kaufen gibt. Derweil wächst der Druck auf die DDR-Regierung. Auf der einen Seite stehen die unterversorgten DDR-Bürger, auf der anderen die Betriebe und Bauern, denen das Wasser bis zum Hals steht, weil ihnen keiner etwas abnimmt.

    Artikel im Tagesspiegel


    Es wurden in der Tat viele Ost-Produkte im Sommer 1990 vernichtet. Eis zum Beispiel, Molkereiprodukte und Obst:

    Zitat

    "Da bekam ich Montag früh einen Anruf aus einer Kaufhalle, dass wir unser Eis wieder abholen sollen." Margot Siedow fuhr hin und fragte den Verkaufsstellenleiter, warum er das Eis nicht mehr haben will. "Hat der wortwörtlich gesagt: 'Wir haben 40 Jahre Ihr Eis gegessen, jetzt nehmen wir das andere.'" [...]


    Frau Siedow von der Leipziger Firma "Eis-Mayer" musste in der ersten Juli-Woche 1990 tatsächlich Hunderte Kartons Eis am Stiel aus den Kaufhallen zurückholen. "Wir haben dann alles auf eine Müllkippe gefahren. Dort wurden die Kartons abgeladen, ausgeschüttet und eingestampft." Einige Wochen später war die traditionsreiche Firma "Eis-Mayer" am Ende.

    Und:


    Zitat

    Und so vernichteten Molkereien tonnenweise Butter, Milch und Joghurt, Bauern ließen das Obst an den Bäumen vergammeln, pflügten reifes Getreide unter und Schweinezüchter töteten ihre Ferkel: "Es ist
    jammervoll, aber was sollen wir machen?", fragte ein verzweifelter Bauer in der Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera".

    http://www.mdr.de/damals/archiv/artikel97784.html

    Da gibt es auch ein Geschichts-Special dazu, habe ich jetzt aber nicht angesehen.

    LG
    AnneL

    Einmal editiert, zuletzt von AnneL ()

  • Leider hat sich ja noch niemand gemeldet und eigene Erfahrungen zu den Hintergründen in den Betrieben beisteuern können.

    Das könnte am durchschnittlichen Alter der hier hauptsächlich Versammelten liegen, selbst, wenn ich jetzt 50 wäre, wäre ich 1990 erst 23 gewesen und somit nicht unbedingt schon in leitender Betriebsfunktion.


    In der Landwirtschaft war es beispielsweise so, dass das bereits erwähnte DDR-Milchrind der Jahresleistung eines Holstein-Friesian Rindes um einige 100 kg unterlegen war. Ja, es war auch ein bisschen kleiner und benötigte ein bisschen weniger Futter, aber die Kosten für z.B. Besamung und Tierarzt waren ja gleich, so dass auch die etwas geringeren Kälberverluste und geringeren Futterkosten den geringeren Milchpreis und vor allem den geringeren Gesamterlös aus dem Milchverkauf überhaupt nicht ausgleichen konnten.


    Und eine Herdenumstellung von SMR auf HF geht eben nicht über Nacht.

  • welchen "dritten weg" der langsamen Annäherung hätte es denn gegeben? Hätte es bei dem Sturm auf die Westprodukte, der damals zu beobachten war denn real die Möglichkeit gegeben, die DDR weiter als Volkswirtschaft existieren zu lassen? Mit der bestehenden Restriktion des Konsums, der Reisen?

    Dazu sagt tatsächlich der von Viva verlinkte Artikel etwas aus, auch wenn er schwer lesbar ist. Meines Erachtens fehlte die Zeit, um diesen Weg zu entwickeln. Ich war ja als Jugendliche mit auf der Straße und gehörte mit zu einer Gruppe von Reformern. Und ich nahm damals - wie sich dann herausstellte fälschlicherweise - an, dass alle, die da um mich her demonstrierten auch einen reformierten Sozialismus wollen. In meiner damaligen Naivität nahm ich an, dass es gehe, zwei Staaten zu erhalten, die frei reisen und handeln können - und wo der eine dann einen langsamen Weg der Reform suchen kann. Das war alles noch reichlich vage, aber mit Zeit und Grips, so dachte ich, würde sich das schon formen. Die Zeit gab es eben nicht.

    und zum wirklichen dritten weg hier etwas:


    http://www.bpb.de/apuz/32883/der-vergessene-dritte-weg?p=all

    Ich glaube, da gibt es verschiedene Gründe. Der eine ist der, für den die Banane steht: Sie wollten jetzt den "goldenen Westen", statt weiter zu warten und etwas zu versuchen, deren Ausgang ungewiss war. Ich glaube allerdings auch, dass es bei den Westmächten nicht wirklich Raum für einen dritten Weg gab. Dass bis heute kein einziger mir bekannter Staat einen solchen Weg gehen konnte halte ich nicht für Zufall.

    Bei der freien Volkskammerwahl im März 1990 stimmten gerade mal 16% für die PDS, die dafür eintrat "die gesellschaftliche Werte und Leistungen der DDR zu erhalten ". Und 40% für die CDU, die für die schnelle Einheit stand, die sofortige Einführung der D-Mark, für Privateigentum und uneingeschränkte Gewerbefreiheit, etx. Jetzt kann man natürlich sagen, die wussten alle nicht, was sie taten und waren manipuliert.

    Aber ich glaube das nicht. Es gab eine große Angst, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen. Dass man jetzt schnell reagieren müsse, weil so eine Gelegenheit vielleicht nicht wiederkommt.

    Wenn es nur um die DDR-interne Ökonomie gehen würde, wäre der Umtauschkurs bei der Währungsumstellung doch völlig irrelevant gewesen. Dann hätte er auch 1:5 sein können. Er wurde - populistischerweise - auf 1:1 gesetzt (Details zum Umrechnungskurs haben wir weiter oben geklärt), damit die DDR-Bürger möglichst viele West-Produkte kaufen konnten. Und zwar weil die Mehrheit der DDR-Bürger das wollte, nicht weil die Wirtschaftssachverständigen oder auch die Politiker das für eine gute Idee hielten.

    Ich glaube, das war ein Signal. Man wollte die DDR-Wähler bei der Stange halten. Dass sie letztlich auf Jahre hinaus schlechter gestellt werden würden in dem einen Land, das wollte man ihnen nicht gleich auf die Nase binden.

    So jetzt von vorne. Leider hat sich ja noch niemand gemeldet und eigene Erfahrungen zu den Hintergründen in den Betrieben beisteuern können. Ich kann das leider auch nicht. Aber ich finde das Thema total spannend und habe noch ein bisschen gesucht.

    Ja, das finde ich auch schade. Man muss mE keine leitende Position haben, um da etwas zu verstehen. Ich nahm an, dass einige hier Eltern oder andere Verwandte oder Freunde haben, die da etwas erzählen können und erzählt haben. Und es wundert mich immer noch, dass das kaum so ist. Da scheint eine große Sprachlosigkeit zu herrschen. Die con Dir herausgesuchten Beispiele berühren mich sehr. Es muss ja furchtbar gewesen sein, für die Leute, die dann ihre Waren nicht mehr loswurden... In unserer Familie wurden nach der Wende bestimmt zwei Jahre lang keine Äpfel mehr gegessen. Wir hatten sie einfach satt. Heute liebe ich Äpfel - aber das hat den Apfelbauern in den zwei Jahren, bis es so weit war, sicher nichts genutzt.

    Ich weiß auch, dass viele Hotels, Ferienwohnungen usw. leer standen und letztlich pleite gingen. Die Ossis fuhren nicht mehr im eigenen Land in den Urlaub und die Wessis kamen nicht, um sich die DDR anzusehen. Denn auch das ist doch ein Phänomen: Warum kauften in Grenzregionen auch die Wessis nicht aus Neugier Ostprodukte? Warum fuhr fast niemand mal sich die DDR ansehen und Urlaub an der Ostsee oder im Ostharz machen? Das, denke ich, hat schon auch mit den Medien und dem Bild von der DDR zu tun, das vermittelt wurde.

  • Ich verstehe den Artikel etwas anders: "die Menge" wollte nicht nur nicht warten, sondern legte auch keinen Wert darauf, Sozialismus in welcher Form auch immer fortzusetzen.


    Mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass eine Beschränkung von Konsum während anderswo alles frei käuflich ist (nicht für jeden - aber aus der entbehrenden Position wirkt schon die Option darauf, konsumieren zu können erstrebenswert) nicht funktioniert. Irgendwie ist im Menschen drinnen, dass allein satt und warm nicht reicht. Es soll eben statt Kartoffeln auch die Südfrüchte zu kaufen geben und statt einer Zweiraumwohnung lieber ein Haus mit Garten.


    So nehme ich die Menschen um mich rum wahr: solange man jung und ungebunden ist, ist Askese etwas leichtes. Je größer die Familie wird, je länger man mit uU harter Arbeit sein Geld verdienen musste, umso entspannter und sorgenfreier möchte man leben, die Kinder vielleicht auf eine "bessere" Schule schicken, "sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen".

  • Ja, wobei ja nicht klar war, ob der dritte Weg Sozialismus, Kapitalismus oder was ganz anderes geworden wäre. Ich denke, das Problem war eben auch, dass die Menschen aus der DDR ja keine Erfahrung mit dem Kapitalismus der BRD hatten. Sie wussten nur, was sie nicht mehr wollten und das andere schien ihnen besser.

  • So wie bei Dir Merin war es in meiner Familie auch. wir hatten auf den dritten weg gehofft. Mein Vater war damals extrem niedergeschlagen...Tenor war, jetzt haben sie uns gekauft. Zumindest in meinem Umfeld war das Konsumbestreben nicht so groß. Ich kenne mehrere die die 100 EUR im nächsten Club verjubelt haben anstatt Bananen zu horten.

    Ich war damals 16 und hatte den Eindruck, dass alle Bestrbungen was alternatives zu schaffen auch gar nicht instituionalisiert wurden. Aber gut, ich war jung und fand alles extrem spannend und war eher im linksalternativen anarcho-umfeld unterwegs. Wir wollten alle raus in die Welt um zu schauen, aber nur zweitrangig um zu shoppen.


    Meine Heimatstadt hat im Nachhinein Hrn. Kohl auch nicht sehr freundlich empfangen.

    Life is a mountain - ride it like a wave

  • Man muss mE keine leitende Position haben, um da etwas zu verstehen.

    Nein, muss man sicher nicht. Aber beispielsweise reichen 1-2 Jahre Melker-Facharbeiter für Tierproduktion-Lehre eben auch nicht, um Hintergründe genau darstellen zu können, insbesondere, was Absatzprobleme o.ä. angeht.


    Ich kenne deutlich mehr Geschichten von "später": mit der Treuhand und damit verbundenen Problemen, aber das würde ich nicht im Rabencafé diskutieren wollen.

  • "Meines Erachtens fehlte die Zeit, um diesen Weg zu entwickeln. Ich war ja als Jugendliche mit auf der Straße und gehörte mit zu einer Gruppe von Reformern. Und ich nahm damals - wie sich dann herausstellte fälschlicherweise - an, dass alle, die da um mich her demonstrierten auch einen reformierten Sozialismus wollen. In meiner damaligen Naivität nahm ich an, dass es gehe, zwei Staaten zu erhalten, die frei reisen und handeln können - und wo der eine dann einen langsamen Weg der Reform suchen kann. Das war alles noch reichlich vage, aber mit Zeit und Grips, so dachte ich, würde sich das schon formen. Die Zeit gab es eben nicht."


    das kann ich persönlich genau so unterschreiben.


    zu innerbetrieblichen erfahrungen der damals ca. 40-50-jährigen werde ich bei den nächsten begegnungen versuchen, etwas konkretes in erfahrung zu bringen. mein betrieb (außenhandel in berlin) hat jedenfalls recht bald geschlossen. ich war da aber gerade im studium.

  • Oh ja, fragt mal nach, bitte.

    Nein, muss man sicher nicht. Aber beispielsweise reichen 1-2 Jahre Melker-Facharbeiter für Tierproduktion-Lehre eben auch nicht, um Hintergründe genau darstellen zu können, insbesondere, was Absatzprobleme o.ä. angeht.

    Ich kenne deutlich mehr Geschichten von "später": mit der Treuhand und damit verbundenen Problemen, aber das würde ich nicht im Rabencafé diskutieren wollen.

    Da stimme ich Dir zu, man hat wahrscheinlich Vieles auch nicht verstanden. Falls Du von den Geschichten welche per PN teilen magst wär ich ganz Ohr.

  • Ich kann nur aus meinem engen Umfeld berichten. Mein Papa war vor der Wiedervereinigung und auch nach der Wiedervereinigung als selbstständiger Gärtner und Händler tätig. In der DDR hat er Blumen und Bäume selber gezogen und verkauft - das lohnte sich sehr, denn es war steuerlich begünstigt, weil in diesem Bereich großer Mangel herrschte. Es gab in der DDR zu wenig Gartenbaubetriebe. Nach der Wende hat er sich auf den Verkauf konzentriert und die Blumen und Bäume von größeren Betrieben gekauft - in den ersten Jahren fuhr er dafür meist nach Holland, ab Mitte Ende der 90er gab es dann auch genügend Betriebe, die vor Ort Pflanzen liefern konnten. Um bei deiner Frage zu bleiben, die Produktion wurde also eingestellt, der Verkauf beibehalten, die Gewinnspanne war kleiner, aber das Geschäft lief gut - Pflanzen kauft man halt auch immer vor Ort?


    Freunde meiner Eltern hatten eine Mosterei und Brauerei - trotz Gängelung durch Behörden, war das zu DDR Zeiten eine Goldgrube - die Leute brachten vor allem ihr eigenes Obst (überwiegend Äpfel, manchmal auch schwarze Johannisbeeren) und ließen sich Säfte liefern. 100 prozentiger Saft war in der DDR Mangelware. Nach der Wende war der Markt weg - jeder kaufte Valensina aus der Werbung (wir auch - und aus Solidarität auch die Brause unserer Freunde, wenn ich ehrlich bin, hielt ich Maracuja-Limonade und Valensina über für den Gipfel des Getränkehimmel, heute trinke ich lieber Apfelsaft?) der Betrieb ging dann auch pleite. Sie vermieteten das Firmengelände an eine große Autovermietungsfirma aus dem Westen und der Mann wurde Filialleiter der Autovermietung und arbeitete bis zur Rente dort. Die Frau ging in den Verkauf und übernahm die Leitung einer Filiale eines bekannten Lebensmittelhandelns.

    Fazit - Betrieb nicht konkurrenzfähig und pleite.


    Ein anderer Freund arbeitete in der Landwirtschaft (Halle Saale Obst) - wurde entlassen, niemand aß mehr das Obst - die Flächen wurden nicht mehr bewirtschaftet, den Betrieb gibt es heutzutage auf kleinerem Niveau mit höherer Produktivität aber immer noch, die Flächen auch. Zu DDR Zeiten war der Obstanbau personalintensiv und weniger produktiv. Der Freund arbeitete bis zur Rente für einen bekannten deutschen Landmaschinenhersteller und verkaufte Landmaschinen aus Niedersachsen an Betriebe in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Fazit Ostbetrieb gibt es noch - mit viel weniger Angestellten. Landmaschinen - in der DDR auch Mangelware - werden heutzutage nicht mehr vor Ort produziert.


    Meine Mama arbeitete in einem sehr großen Betrieb, die Papier- und Schreibbedarf (also vom Füller, über die Schreibmaschine und Papier bis hin zum Toilettenpapier) verteilte (also von den Produzenten in den Handeln der DDR brachten). Es waren fast alle Dinge Mangelware - Schreibmaschinen sowieso aber auch Tapeten oder Füller usw. - während der gesamten DDR konnte der Bedarf nicht ausreichend gedeckt werden, wer tapezieren wollte, musste organisieren - denn im Handel wurden pro Person beispielsweise fünf Rollen Rauhfaser verkauft - für eine Wohnung braucht man aber 20 Rollen, für ein größeres Zimmer 6 - also müsste man sammeln oder andere Personen bitten zu kaufen oder halt die Verkäuferin kennen. Auch die Qualität war nicht immer gut - das normale Zeichenpapier war zum Beispiel nicht blütenweiß und fest, so wie es heute ist, sondern sehr faserig und dünner. Gutes Papier war Mangelware. Toilettenpapier war auch grau und dünner und keinesfalls mit lustigen Motiven bedruckt. Die Produktion dieser Papierwaren brach sofort mit Marktöffnung zusammen - die Betriebe wurden innerhalb kürzester Zeit dicht gemacht und die Leute standen zu tausenden auf der Straße - der Rest der Produktion landete auf den Müllhalden. Viele der entlassenen mussten umschulen, waren arbeitslos oder zogen in die alten Bundesländer. Die Stadt Halle verlor innerhalb der ersten Dekade nach der Wende fast 1/3 der Bevölkerung. Leere Produktionshallen lassen sich in den vorher industriell geprägten Vierteln vor allem in Bahnhofsnähe noch heute finden. Die 3000 Mitarbeiter in dem Betrieb meiner Mama wurden entlassen. Betrieb, Grundstück und Vermögen wurden an einen westdeutschen Investor für eine symbolische Mark übergeben - er verkaufte die Reste des Betriebsvermögens (Fahrzeuge, Papier usw. für wenig Geld an osteuropäische Käufer) und machte binnen Jahresfrist Konkurs - das Grundstück gehörte allerdings seiner Frau.

  • ... die es für einen hohen Betrag an eine internationale Hotelkette vermietete und heute noch vermietet. Die Frau ist Millionärin - der Mann fein raus.


    Mit 40 Mann machte der Rest des ehemaligen Betriebs weiter - abe Bürobedarfgroßhandel lohnt sich nicht mehr - um beim Einkauf konkurrenzfähig zu sein, braucht man einen großen Atem, die Marge ist da sehr gering. Mittlerweile hat der Betrieb noch 3 Angestellte und hält sich gerade so über Wasser.


    Fazit - Papierproduktion der DDR stillgelegt - tatsächlich nicht konkurrenzfähig. Produktion jetzt nicht mehr am Standort, Handel überwiegend in großen Ketten und Kaufhäusern, heutzutage wahrscheinlich überwiegend bei Internetgroßhändlern.

  • Die Wirtschaftsleistung in der DDR war meiner Ansicht nach tatsächlich in vielen Bereichen nicht konkurrenzfähig. Die Massenarbeitslosigkeit in den 90ern war jedoch ein großes Unglück für viele Menschen und hat vielen Lebenschancen genommen, zudem sind viele weggezogen - darunter leiden diese Regionen noch heute. Sprachlosigkeit über die Erfahrungen vor und nach der Wiedervereinigung herrscht nach meiner Erfahrung nicht - fraglich ist aber, wie viele überhaupt etwas hören wollen;)

  • Gerade im Lebensmittelhandel und im Textilhandel wurde die Produktion übrigens tatsächlich innerhalb weniger Monate einfach abgewickelt - die Leute zu tausenden entlassen, die Reste der Produktion verramscht oder auf die Müllhalde gekarrt - die Fabriktore geschlossen und (teilweise bis heute) dem Verfall preisgegeben. Wie gesagt in Halle oder Leipzig (Stichwort Baumwollspinnerei - dort gibt es auch eine gute Ausstellung zur Geschichte des Geländes) lassen sich die stillgelegten riesigen Fabrikgelände noch begehen.

    Textilen kauften viele Ostdeutsche zunächst per Katalog bei n.eckermann und o.tto - oder man fuhr gleich zum Shoppen in den Westen. Innerhalb der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung bekam dann jede größere Stadt eine Shoppingmall auf der grünen Wiese und einen K.aufhof oder K.arstadt in der Innenstadt - im ehemaligen Gebäude des jeweiligen Centrum-Warenhaus und die Textilien kommen aus der Türkei und Bangladesh. Die Innenstädte verwaisten. In der Textilbranche arbeitet heutzutage kaum noch jemand.


    Die Lebensmittelhändler fuhren zunächst auf eigene Faust z.bsp. Richtung Hannover im Firmen-Wartburg, luden den Kofferaum bei Metr.o und Co mit Minuten.terrinen und Ketchup voll und zurück in den Laden damit - innerhalb kürzester Zeit eröffneten dann westdeutsche Ketten in den geschlossenen Filialen von Konsum und Feinkost ihre Läden und verkauften mit einem Viertel des alten Personals Lebensmittel. Konsum existiert als kleinere Handelsgesellschaft immer noch. Die lebensmittelproduktion ist auf viel kleinerem Niveau teilweise noch vorhanden - Kath.i - B.autzensenf, Hallor.en und Co.

  • VivaLaVida , du zitierst:

    "Und ich nahm damals - wie sich dann herausstellte fälschlicherweise - an, dass alle, die da um mich her demonstrierten auch einen reformierten Sozialismus wollen"


    Die Hervorhebung ist von mir. Genau dieser Satz enthält in meinen Augen viele Facetten der damaligen Stimmung. Das große Gemeinsame, das viele heraufbeschworen hatten gab es nicht. Zumindest nicht so richtig. Aber wie viele unterschiedliche Meinungen in einer gemeinsamen Demo sein können hat sich erst später gezeigt.


    Weiter unten in dem von dir zitierten Text heißt es sinngemäß, dass Askese nicht massenkompatibel ist. Das ist denke ich ein Kernproblem dieser Welt. Interessant wäre es, herauszufinden, ob das Folge von kapitalistischen Jahrhunderten ist oder dem menschlichen Wesen innewohnt.

  • "Meines Erachtens fehlte die Zeit, um diesen Weg zu entwickeln. Ich war ja als Jugendliche mit auf der Straße und gehörte mit zu einer Gruppe von Reformern. Und ich nahm damals - wie sich dann herausstellte fälschlicherweise - an, dass alle, die da um mich her demonstrierten auch einen reformierten Sozialismus wollen. In meiner damaligen Naivität nahm ich an, dass es gehe, zwei Staaten zu erhalten, die frei reisen und handeln können - und wo der eine dann einen langsamen Weg der Reform suchen kann. Das war alles noch reichlich vage, aber mit Zeit und Grips, so dachte ich, würde sich das schon formen. Die Zeit gab es eben nicht."


    das kann ich persönlich genau so unterschreiben.


    ...

    So ging es mir auch...


    Als eigene Erfahrung bekam ich nur mit, dass es in Magdeburg (Schwermaschinenbauhochburg, SKET, SKL) tatsächlich so war, dass, ich glaube es betraf damals das SKET, der Betrieb für wenig Geld und mit dem Versprechen ihn weiterzuführen aufgekauft wurde und nach Abwicklung des Kaufes die Maschinen entfernt wurden und die Arbeiter vor leeren Hallen standen.


    Geld hatte ich damals noch nicht gespart, von daher war ich persönlich nicht betroffen.


    Was den Wegzug der Menschen in die alten Bundesländer betrifft, habe ich immer noch die Aussage eines Politikers/Politikerin im Kopf, der/die meinte, dass sich die Leute aus den neuen Bundesländern doch bitte nicht über die hohe dort herrschende Arbeitslosigkeit beschweren sollen, sie sollen doch gefälligst dort hin gehen, wo es Arbeit gibt...und ja vielen, gerade auch jungen Leuten blieb nix anderes übrig...uns auch!

  • Weiter unten in dem von dir zitierten Text heißt es sinngemäß, dass Askese nicht massenkompatibel ist. Das ist denke ich ein Kernproblem dieser Welt. Interessant wäre es, herauszufinden, ob das Folge von kapitalistischen Jahrhunderten ist oder dem menschlichen Wesen innewohnt.

    Das ist eine gute Frage, die ich mir auch immer wieder stelle.

    Als eigene Erfahrung bekam ich nur mit, dass es in Magdeburg (Schwermaschinenbauhochburg, SKET, SKL) tatsächlich so war, dass, ich glaube es betraf damals das SKET, der Betrieb für wenig Geld und mit dem Versprechen ihn weiterzuführen aufgekauft wurde und nach Abwicklung des Kaufes die Maschinen entfernt wurden und die Arbeiter vor leeren Hallen standen.

    Krass. #blink Und man muss hilflos zusehen...