Wir alle tun es mehrmals täglich. Wenn wir auf die oberflächliche Frage nach dem Befinden, lapidar mit "gut" antworten.
Wenn wir der todkranken Dame von nebenan sagen, dass sie heute schon viel besser aussieht.
Wenn wir der lieben Kollegin zur tollen, neuen Frisur gratulieren, obwohl wir ihr am liebsten einen Anwalt besorgen wollen.
Diese Argumentation habe ich schon oft gelesen, und ich kann damit überhaupt nichts anfangen.
Ich mache sowas nie.
Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, erzähle ich vielleicht nicht meine komplette Lebensgeschichte. Aber wenn es mir nicht gut geht, antworte ich auch nicht "gut", sondern das, was gerade passt, selbst wenn es (wie vorletzte Woche) dann auf "so krank war ich in meinem ganzen Leben noch nicht" hinausläuft.
Das geschieht täglich bis zu 200 mal, je nach Kontaktmenge. Und es ist wichtig für das soziale Miteinander. Der Chef morgens im Aufzug will nämlich auf seine Frage nicht hören "ach wissen Sie, mir werden kommenden Freitag zwei Knoten biopsiert und ich habe große Angst."
Dann soll er das eben nicht fragen. Mich hatte mal eine Kollegin morgens, als ich ins Büro kam, gefragt, wie es mir geht, und ich habe angefangen zu heulen und ihr erzählt, dass ich gerade entdeckt hatte, dass der Marder in der Nacht all unsere Wachteln umgebracht hat. War ihr etwas unangenehm, dass ich sie vollgeheult habe, aber da musste sie dann durch.
Wenn man nicht gerüstet ist, sich ggf. sowas anzuhören, muss man halt statt nach dem Befinden nach dem Wetter oder etwas anderem Unverfänglichen fragen, finde ich.
Wenn ich auf eine Frage nicht antworten möchte, sage ich das. Und selbstverständlich kommentiere ich auch nicht ungefragt negativ. Wenn ich die neue Frisur blöd finde, sage ich nichts dazu. Wenn ich das Gefühl habe, die Person wartet auf eine Bemerkung, frage ich vielleicht, wie die Person auf die Idee gekommen ist, diese Änderung vorzunehmen. Aber aus "Höflichkeit" etwas zu loben, das ich Scheiße finde - nee, das kann ich nicht, will ich nicht, und ich will auch nicht, das andere das bei mir machen.