Es ist nicht nur eine Geldfrage. Früher kamen die Kinder oft aus großen Geschwisterzusammenhängen und konnten sich problemlos in große Gruppen einfügen. Heute ist das nicht mehr so, soll aber geübt werden. Du kannst in einer großen Klasse nicht jedes einzelne Kind ansprechen und sagen "Anna-Maria, zieh bitte deine Schuhe an, wir gehen jetzt raus, komm, ich binde dir die Schnürsenkel", sondern es heißt "wir gehen jetzt raus" und dann guckt jedes Kind, daß es mitkommt. Wie in einer großen Herde.
Dafür wird hingegen jedes Kind einzeln begrüßt, mit Handschlag und Augenkontakt und Namen, und ebenso verabschiedet. Das ist ein kurzer, intensiver Moment des Kontakts. Oder die Lehrerin macht Hausbesuche in den Familien, da wird dann für einen Nachmittag das einzelne Kind, und nur dieses Kind, gesehen und gewürdigt.
Also Individualität ja, aber eben auch als kleiner Teil im großen Ganzen.
Pikler z.B. hat auch aus der Not großer Gruppen (im Waisenhaus) heraus etwas entwickelt, um den Kindern eine ruhige, schöne Atmosphäre und individuelle Entwicklung zu ermöglichen, aber ohne ständige 1:1 Betreuung, die damals schlicht nicht leistbar war.
Es hat in der Schule auch den Vorteil, daß die Kinder nicht immerzu auf dem Präsentierteller und im Fokus sind. Das kann auch entspannend sein.
Zu viel Aufmerksamkeit auf das einzelne Kind mache es wund, heißt es. Die Kinder singen viel und sprechen Gedichte im Chor, im ganzen rhythmischen Teil ist das einzelne Kind umso besser mit eingebunden, je größer die Klasse ist.
Und ja, die kognitiven Fähigkeiten wie lesen, schreiben, rechnen werden sehr langsam eingeführt. Kinder, die da schon vorgelernt haben oder weiter sind, werden oft ausgebremst, damit sie andere wichtige Entwicklungsschritte nachholen können.
Ein bißchen so, wie man Säuglinge liegend im Arm hält und nicht sitzend, weil sitzen einfach noch zu früh ist, oder sie nicht darin unterstützt, an der Hand oder in so Rollwägen laufen zu lernen, bevor sie sich nicht selbst aufrichten und ausbalancieren können. Da sagen ja auch viele: "mein Baby WILL aber schon sitzen und laufen", und das stimmt ja auch. Aber vorher käme halt noch was anderes.
Ich finde nicht, daß das Kind nicht gesehen und nicht in seiner Individualität anerkannt wird, wenn man es da ein bißchen zurückhält und ihm sanft Weisung hin zu anderen Lernfeldern gibt, die auch wichtig sind.