Tikaani
Spoiler voran: Ich bin kein Fan von Waldorf. Das Konzept hat auch gute Seiten, aber für mich kegeln die Negativen das Gute mit Schwung heraus.
Entwicklungspsychologie war Teil meiner universitären Ausbildung. Und gepaart mit gesundem Menschenverstand klappte mir bei einigem, was du schriebst, die Kinnlade doch arg herunter. Ich mag jetzt gar nicht auf deine Argumente für große Klassen eingehen. "Zuviel Aufmerksamkeit mache das Kind wund" liest sich hier bei den Raben allerdings schon arg merkwürdig.
Ich habe mein Hauptproblem mit Folgendem:
Und ja, die kognitiven Fähigkeiten wie lesen, schreiben, rechnen werden sehr langsam eingeführt. Kinder, die da schon vorgelernt haben oder weiter sind, werden oft ausgebremst, damit sie andere wichtige Entwicklungsschritte nachholen können.
Ein bißchen so, wie man Säuglinge liegend im Arm hält und nicht sitzend, weil sitzen einfach noch zu früh ist, oder sie nicht darin unterstützt, an der Hand oder in so Rollwägen laufen zu lernen, bevor sie sich nicht selbst aufrichten und ausbalancieren können. Da sagen ja auch viele: "mein Baby WILL aber schon sitzen und laufen", und das stimmt ja auch. Aber vorher käme halt noch was anderes.
Ich finde nicht, daß das Kind nicht gesehen und nicht in seiner Individualität anerkannt wird, wenn man es da ein bißchen zurückhält und ihm sanft Weisung hin zu anderen Lernfeldern gibt, die auch wichtig sind.
Lesen, Schreiben, Rechnen bremsen keine anderen Entwicklungsschritte, und schon gar keine wichtigen. Kinder, die früh Interesse daran zeigen, schaden weder ihrer Wirbelsäule, wie zu früh fremd aufgesetzte Babys, noch irgend einem anderen Aspekt ihrer Person. Es geht hier nicht darum, dass ein Kind sich körperlich übernimmt. Es geht nicht mal um geistiges Übernehmen. Meine Tochter hat in den ersten Wochen ihrer wirklich guten Regelgrundschule gelitten, weil sie nur einen Buchstaben pro Woche gelernt haben. Anderen mag auch das zu schnell gegangen sein, und sie haben deshalb gelitten. Aber egal von welchem Spektrum man kommt: Jedes Kind hat das Recht auf einen individuellen Blick auf seine Bedürfnisse. Auch Lesen, Schreiben, Rechnen kann ein Bedürfnis sein, und das in der Schule aus ideologischen Gründen (!) versagt und mit "später mal, lern erst mal was anderes, du bist noch nicht so weit" vertröstet zu werden, lässt sich entwicklungspsychologisch einfach nicht rechtfertigen.
Kinder durchlaufen bestimmte Entwicklungsstadien, aber jedes zu seiner Zeit. Die Montessori-Pädagogik fußt zum Beispiel genau darauf: dass jedes Kind zu seiner eigenen Zeit ganz individuelle Interessen hat, die gerade dann gefördert werden sollten, wenn sie "akut" sind. Regelschulen können das oft nicht leisten. Aber Waldorfschulen sollten es zumindest nicht von vornherein ablehnen.