Meine Eltern sind auch im passenden Zeitraum (42 & 47) geboren. haben in den späten 60er studiert und sind sehr aufgeklärte, respektvolle, offene Menschen, die noch dazu sehr sozial engagiert sind und, vor allem meine Mutter, eine unglaubliche Reflexivität an den Tag legen.
Wenn ich so alt werden darf, bin ich sehr dankbar.
Trotzdem sind meine Eltern im Alltag manchmal erschreckend wenig umsichtig. Sie registrieren Ereignisse oder Bedingungen nicht und können oft nicht angemessen auf die Situation reagieren. Die ersten Male war ich echt erschrocken, wenn sie dann z.B. mit meinem offenbar fiebernden Sohn trotzdem einen Ausflug gemacht haben und hinterher ganz erstaunt waren, dass es so schlapp war. Oder mein Vater sich über irgendetwas aufregt und erst beim drüber reden merkt, dass er die Situation falsch eingeschätzt hat.
Darüber habe ich dann mit meiner Mutter gesprochen (die übrigens sehr verletzt war, als ich darüber ärgerlich wurde). Und sie erklärte mir, dass das anstrengendste am alt werden sei, dass man einfach nicht mehr so schnell und flexibel reagieren könne.
Manchmal würde die Konzentration, die Aufmerksamkeit und die Kraft gerade reichen, die geplanten Sachen angemessen umzusetzen. Wenn dann etwas unerwartet anders sei, sei es manchmal sehr schwer, das überhaupt nur wahr zu nehmen und dann auch noch angemessen zu reagieren.
Die Betreuung meiner Kinder, die sie wirklich wunderbar machen, ist für beide eine große Herausforderung und gelingt für längere Zeitspannen nur, wenn sie sich gegenseitig unterstützen können.
Meine Eltern sind sehr geübt darin, sich in andere Personen hinein zu versetzen, aber meine Mutter sagt, dass gerade das besonders schwer ist. Die eigene Perspektive bietet Sicherheit und schont Ressourcen. Wenn eine Situation eh schon anstrengend ist, dann schafft man es manchmal nicht, über den eigenen Tellerrand zu schauen. (Und das ist definitiv nicht nur im Alter so ;). Das kennt wohl jedes gestresstes Elternteil)
Seit diesem Gespräch bin ich sehr viel geduldiger und offener im Umgang mit älteren Menschen. Weil es mir besser gelingt, ihr Verhalten nicht als respektlos, übergriffig und egoistisch zu sehen, sondern eher als Zeichen ihrer Überforderung damit, komplexe, gerade auch soziale Zusammenhänge zu erfassen.
Das Beispiel mit der Dame, die im Café mitbekommt, dass ein Platz frei werden würde und diesen sofort besetzt, ist dafür finde ich sehr treffend. Vermutlich war die Situation für sie eigentlich vollkommen überfordernd. Was früher selbstverständlich war ("Geh doch schon vor und such einen Tisch") ist plötzlich anstrengend und schwer. Da hat sie vielleicht gar nicht gesehen, dass sie einer Schwangeren mit Kind den Platz klaut!
Ich will damit das Verhalten nicht schön reden. Ich glaube, dass man auch als alter Mensch mit etwas mehr Mühe weiterhin respektvoll und sozialverträglich agieren kann.
Aber ich fands für mich hilfreich zu verstehen, dass es alten Menschen offenbar viel schwerer fällt, andere zu berücksichtigen und vielleicht sogar vorausschauend Rücksicht zu nehmen, weil der Alltag schon anstrengend ist und die Aufgaben schwerer zu bewältigen sind.
Ich kann mir vorstellen, dass für manchen alten Menschen das benutzen von öffentlichen Verkehrsmittel eine echte Hürde darstellt und sie dann froh sind, einfach angekommen zu sein. Auch wenn sie keine (sichtbaren) körperlichen Einschränkungen haben.
Lautes Pöbeln, verbale (und körperliche) Angriffe u.ä. gehen natürlich trotzdem gar nicht.
LG, Katinki
P.S. Liebe Shevek, ich danke dir, dass du diese Fahne so konsequent hoch hältst.#respekt Dann muss ich nicht so ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich dafür keine Geduld aufbringe.