Und da liegt des Pudels Kern: glaubt man diesem Mythos, bestand Deutschland über viele Jahre quasi nur aus Bürgertum
In der Realität war das ein verschwindend kleiner Teil. Und historisch gesehen bleibt auch wenn man die Gründerzeit noch dazu rechnet nur ein sehr kurzer Abschnitt für dieses Bürgerideal.
Ist die historische Entwicklung nicht (ganz grob) eher so:
- ca 19. Jh. eine immer breiter werdende Arbeiterschicht, wo Männer und Frauen in Fabriken geschuftet haben und eine sehr kleine bürgerliche Schicht, wo die Männer gearbeitet haben und die Frauen zu Hause waren und keiner bezahlten Arbeit nachgegangen sind.
- im Laufe des 20. Jahrhunderts werden es tendenziell immer weniger Arbeiter:innen in Fabriken und immer mehr "saubere Bürojobs"/ Angestellte wobei sich vor allem Leute mit den gehobeneren "Bürojobs" zunehmend an das Bürgertum anpassen
- in den Nazijahren eine Verklärung der Frau als Mutter, die sich möglichst um den Nachwuchs kümmern soll ohne ihn zu sehr zu verhätscheln. Erst gg. Ende der Nazizeit müssen Frauen zunehmend die Arbeit der Männer mit übernehmen.
- nach dem 2. WK zunächst eine Phase, in der Frauen weiter viel Männerarbeit mit machen müssen wg. Männermangel. Im Westen dann aber ab den 50er Jahren ein starker Wirtschaftsanstieg, der sehr rasch dazu führt, dass Frauen regelrecht aus dem Wirtschaftsleben wieder verdrängt werden und wo die Einverdienerehe das Ideal wird, was auch politisch unterstützt wird (z.B. durch das Ehegattensplitting). Dabei wird das ursprünglich bürgerliche Ideal auf immer größere Schichten ausgeweitet und irgendwann als völlig normal empfunden, dass Frauen in der Ehe sich um Haus und Kinder kümmern und keiner außerhäuslichen bezahlten Arbeit nachgehen.
Im Osten dagegen - im Arbeiter- und Bauernstaat - wird idealisiert, dass alle Erwachsenen arbeiten sollen und es werden entsprechende Strukturen sehr bewusst und zielgerichtet aufgebaut, vor allem Kinderbetreuung und eine Schule, die ohne größere Mitarbeit der Eltern funktioniert. Dieses Ideal ist auch ein Grund, warum die Arbeitslosigkeit nach der Wende für viele ganz dramatisch ist, weil davor quasi der ganze Sinn des Daseins auf die Arbeit ausgerichtet war.
Ich würde also gar nicht mal sagen, dass Deutschland nur aus Bürgertum bestand - aber ursprünglich bürgerliche Ideale und Lebensformen wurden im Westen zunehmend von anderen Gruppen übernommen.