Ihr seid hier so aktiv, dass ich bis jetzt mit dem Lesen dieses interessanten Threads kaum hinterherkomme, jetzt will ich aber auch mal was beisteuern:
Ich glaube, dass in Deutschland viele Menschen einfach nicht auf die Idee kommen, die Schulpflicht in Frage zu stellen. Sie ist so selbstverständlich, alle Kinder gehen zur Schule, manche nicht immer gern, das war gefühlt schon immer so, wird immer so sein, lässt sich nicht ändern und geht doch auch gar nicht anders.
Kindererziehung ohne körperliche Gewaltandwendung war auch lange Zeit unüblich bis undenkbar - und oft sind es gerade diejenigen, die als Kinder Opfer von Gewalt wurden, die diese im Rückblick verteidigen ("Hat mir doch auch nicht geschadet"). Es hat lange gedauert, bis sich die vorherrschende Meinung diesbezüglich geändert hat.
Schließlich sind wir doch alle auch durch dieses System gegangen und auch geprägt worden, und uns allen wurde wieder und wieder von klein auf vermittelt, dass es ohne Schule und Hausaufgaben nicht geht. Das Vertrauen in die Kinder, von sich aus Teil der Gesellschaft sein zu wollen und auch zu erkennen, was dafür nötig ist, ist oft nicht da ("Für andere Kinder mag das ja funktionieren, aber mein Kind ist ein fauler Hund und würde nichts mehr machen.")
Warum vertraut ihr denn euren Kindern, dass sie von ganz allein, ohne Kurse oder Anleitung und obwohl es enorm anstrengend ist, in ihrem Tempo und wenn es für sie dran ist laufen und sprechen lernen? Und diese Neugier und der Wille, bei den Großen mitmischen zu können, endet dann plötzlich mit Erreichen des sechsten Lebensjahres? Ich behaupte: Jedes normal entwickelte Kind, dass nicht aktiv daran gehindert wird, wird lesen, schreiben und rechnen lernen - und auch eine Fremdsprache und alles andere, was es braucht, um seine Ziele zu erreichen. Das alles aber viel leichter, wenn man es nicht dazu zu animieren versucht.
Natürlich sehe ich auch die Kritikpunkte, vor allem, dass ohne Schulpflicht vielleicht mehr Kinder durchs Raster fallen würden - doch es wurden ja schon viele Vorschläge dazu gemacht, wie dem begegnet werden könnte. Aber ich teile die Meinung nicht, dass (Regel- und Zwangs-)Beschulung vielen nützt und den meisten zumindest nicht schadet.
In der Regelschule gestellte Aufgaben haben in aller Regel vorgegebene Lösungen, zu denen die Schülerinnen und Schüler hingeführt werden sollen. Selbst denken sollen sie natürlich schon, aber in vorgegebenen Bahnen. In der Lehrerausbildung (zumindest in NRW) ist es so, dass für die Lehrproben von den Referendaren detaillierte Stundenplanungen erstellt werden müssen, mit den möglichen Antworten der Kinder schon vorgedacht.
In der Schule gut benotet wird also vor allem, möglichst schnell zu verstehen, worauf die Lehrerin hinauswill. Eigenständiges, kreatives Denken geht anders. Darüberhinaus halte ich Noten generell für kontraproduktiv beim Lernen: Kinder können meistens sehr gut selbst beurteilen, wie gut oder auch nicht gut sie etwas können. Noten fördern den Konkurrenzdruck, können niemals objektiv sein und höchstens kurzzeitig als Ansporn wirken. Sehr schön und ausführlich erklärt ist das in Alfie Kohns "Punished by Rewards".
Interessante Literatur- und Filmtipps gab es ja auch schon, ich empfehle noch den Film "Alphabet" von Erwin Wagenhofer und das Buch "Endlich frei!" von Daniel Greenberg (letzteres über die Sudbury-Valley-Schule).
Ich persönlich habe den Zwang, in die Schule zu müssen, selbst sehr deutlich empfunden und meine Zeit (trotz guter Noten) dort abgesessen. Alles, was mich nicht interessiert hat, habe ich schneller vergessen, als ich "Klausur bestanden" sagen konnte, alles, was mich interessiert hat, hätte ich freiwillig intensiver und schneller lernen können. Das Argument, Kinder nur so (oder so besonders gut) auf die Zwänge des Erwachsenlebens in unserer Gesellschaft vorbereiten zu können, überzeugt mich nicht: Ich halte unser Gesellschaftsmodell noch lange nicht für das Bestmögliche. Solange wir unsere Kinder von Anfang an daran gewöhnen, dass das ganze Leben überwiegend aus Pflichterfüllung und Zwang (die man aber gar nicht unangenehm finden muss, es ist eben einfach so und innerhalb des Systems kann man es auch ganz bequem haben) besteht, kommen sie später auch nicht auf die Idee, das womöglich ändern zu wollen.