Dass die Inschrift bis 1945 achtmal in knalligem Rot nachgestrichen wurde, war nach Knigges Überzeugung eine "ebenso bewusste wie böswillige politische Entscheidung" des Lagerkommandanten. Wenn die Häftlinge von der S S in Hunderterblocks auf den Appellplatz gehetzt wurden, dann sollten sie ihr Verdikt immer wieder aufs Neue vor Augen haben: "Jedem das Seine", knallrot auf Zinkweiß.
"Jedem das Seine" bedeutete im KZ eben den lebenswichtigen Unterschied zwischen der Volksgemeinschaft in der wenige Kilometer entfernten Klassikerstadt Weimar – und den "Gemeinschaftsfremden", wie die Nazis die hier gefangenen Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und Zeugen Jehovas, die Homosexuellen, die Geistlichen, die Schriftsteller und Künstler abschätzig nannten.
Der von Kaiser Justinian aufgesetzte römische Rechtsgrundsatz "suum cuique" war völlig anders gemeint: "Ehrbar leben, andere nicht verletzen, jedem das Seine zubilligen." Die Botschaft der Nazis an die Häftlinge von Buchenwald bedeutete das Gegenteil: Hier bekommt ihr, was ihr verdient – Elend und Tod.
250.000 Häftlinge aus ganz Europa liefen zwischen 1937 und 1945 durch das "monumentale Eingangstor", wie es der spanische Buchenwald-Gefangene Jorge Semprún Jahrzehnte später in einem seiner vielen Romane über seine KZ-Haft notierte. Im Dezember 1944 drängelten sich in Sichtweite der Inschrift über 40.000 Todgeweihte beim Morgenappell. Alle mussten hier antreten; auch die Toten. Wer in der Nacht zuvor an Typhus, Cholera oder wegen der sadistischen Behandlung durch S S oder kriminelle Kapos gestorben war, den mussten die Lebenden unterhaken und mit auf den Platz schleifen.