Alles anzeigenAlles anzeigenAus meiner Sicht zeigt das Urteil nur die Schwierigkeiten der Leistungsbewertung sehr deutlich auf, und dies leider zum Nachteil der Schüler*innen mit Behinderung und Beeinträchtigung in diesem Fall.
Wenn jetzt z.B. der Vermerk steht "Schüler*in hat mehr Zeit bekommen" ist das eine Art Makel, ein Stempel, der aufgedrückt wird und ein potenzielles Warnsignal an Arbeitgeber*innen.
Dabei hat die Person im Zweifelsfalls popelige 10% mehr Zeit erhalten, die noch nicht einmal den real bestehenden Nachteil tatsächlich ausgleichen.
Somit: Nachteil nicht einmal ausgeglichen, statt dessen implizites Aufzeigen einer Behinderung. So sollte es wohl eigentlich nicht sein.
Sinnvoll wäre vermutlich eine komplette Abkehr von unseren Noten- und Bewertungssystemen, aber das wird vermutlich noch ein paar Jährchen dauern.
Ich würde gerne den Part mit dem Arbeitgeber rausgreifen:
Man muss sich bitte vorstellen, die schwer es für Menschen mit einer Behinderung ist, sich bei einem Arbeitgeber vorzustellen. Da ist immer die Angst dabei "schaffe ich das? bin ich gut genug?". Und wenn der Arbeitgeber nichts vorher erfährt, geht er nachvollziehbarerweise von einer ganz falschen Ausgangsposition aus. Nämlich, dass da ein potentieller Azubi / Arbeitnehmer ohne Einschränkungen kommt, auf den ich keine Rücksicht nehmen muss, von dem ich sofort 100% verlangen kann. Und dann geht das im Affenzahn schief, der behinderte Mensch wird in der Probezeit fristlos entlassen. Und das vielleicht nicht nur einmal, zweimal, ...
Ja, wir müssen am Umdenken in der Gesellschaft arbeiten, täglich! Aber bis wir da sind, müssen wir die Menschen auch schützen. Vor vermeidbaren Erfahrungen dieser Art, die nicht selten zu schweren psychischen Problemen führen. Davor, schon mit 25 Jahren eine zweistellige Zahl an erfolglosen Arbeitsverhältnissen im Lebenslauf stehen zu haben.
Ich bin seit 14 Jahren Arbeitsvermittlerin Reha/SB und ich habe in 98% der Fälle die Erfahrung gemacht, dass es viel besser funktioniert, von anfang an offen mit dem Thema umzugehen. Im Gespräch bitte, nicht in der Bewerbung. Probearbeit zu vereinbaren, damit man ohne Druck ausprobieren kann, ob es funktioniert oder nicht. Was es vielleicht an Hilfen und Unterstützung braucht, zeitweilig oder dauerhaft. Das nimmt auch für den Arbeitnehmer wahnsinnig viel Druck raus zu wissen, dass keiner 100% vom ersten Tag an erwartet. Sondern das jeder weiß, dass es vielleicht länger dauert, wo man Hilfe braucht. Vielleicht dadurch aber auch die Stärken viel besser ans Tageslicht kommen, weil das bei uns allen ohne Druck so ist. Und plötzlich die Kollegen und Vorgesetzen ein "aha" Erlebnis haben und plötzlich eine ganz andere Sicht, Ideen wie man die Arbeit umgestalten kann und schwupps - haben vielleicht alle was davon.
Und die restlichen 2% die wird es leider immer geben. Die Dep...n und Ar........er, die nur die Dollarzeichen in den Augen haben
Zur rechtlichen Sache bzgl. der Zeugnisbemerkung kann ich leider nix sagen
Deine Erfahrungen sind völlig anders als meine und ich glaube, wir müssen beide nebeneinander stehen lassen.
Ich sehe viele Studierende, die definitiv Schwierigkeiten in der Rechtschreibung haben, die aber, dank guter Software und künstlicher Intelligenz, jetzt bei mir sehr gute wissenschaftliche Arbeiten schreiben. Blockaden haben sie nur wegen Erfahrungen in der Schule und es kostet wahnsinnig viel Mühe, die Schreibblockaden der schulischen Vergangenheit auszuhebeln und diesen fähigen (!) Menschen das Vertrauen in die eigene Schreibfähigkeit wieder zu geben. Und mal aus Arbeitgeber*innensicht gesprochen: Diese Menschen können der Arbeitswelt viel geben, sind auch nicht groß eingeschränkt, sofern sie eine Software haben, die ihre Fehler korrigiert, werden aber durch die Schule als "mit Make behaftet" gelabelt, dies noch unterstützt durch das heutige Urteil.
Und, um Hermines Beitrag aufzugreifen: Ja, auch viele Professor*innen, die trotz (!) Schule ihren Weg gegangen sind. Sehr häufig, wenn ich neu mit Profs an der Hochschule zu tun habe, zucken sie erstmal zusammen, denn ich bin ja eine von denen, die Linguistik studiert haben. Die Erinnerung an die Bewertung im System Schule ist sofort wieder präsent, das merke ich an ihren Kommentaren, an ihrem Verhalten, am Erröten, nur weil auf einer Mitschrift ein Fehler war. Jedes Mal zeigt mir das, wie sehr die Schule sie geprägt hat und wie nachhaltig diese negativen Erfahrungen sich immer noch auf sie auswirken. Es wird Zeit, Dinge wie "mehr Zeit brauchen" oder "keine guten Rechtschreibkenntnisse zu haben" nicht mehr als Makel zu sehen. Das ist kein Umgang mit Vielfalt in unserer Gesellschaft.