Zunächst mal: Ich will und wollte niemanden kritisieren oder behaupten, ihr würdet es falsch machen und ich mache alles besser. Ich schrieb ja: Das ist MEIN individueller Weg, der zu MEINEM Kind und zu mir passt. Und ich hab mein Kind auch nicht mit Bedienungsanleitung geliefert bekommen und musste erst suchen und probieren, was denn bei uns funktioniert und was nicht. Und nur, weil solche Spiele oft oder meistens gut klappen, heißt das nicht, dass das IMMER so ist. Selbst bei meiner kooperativen Tochter gibt es Tage, an denen sie nur auf Widerstand gepolt ist. Und wie bei Trin: Ja, auch ich würde dann nicht mit massiver Gewalt aufs Zähneputzen bestehen, sondern es dann in dreiherrgottsnamen eben mal ausfallen lassen. Solche Momente, in denen meine Tochter größtmöglichen Widerstand geleistet hat, haben mir aber immer wieder auch gezeigt, dass es wichtig ist, sein Kind auch ernst zu nehmen. ich kann wieder nur für MEIN Kind sprechen (nach wie vor ohne Vergleichsmöglichkeiten), aber wenn die mal ihre Kooperation verweigert, dann gibt es fast immer auch einen Grund dafür. Etwa wenn sie partout nicht zum Schwimm- oder Turntraining oder in den Kindergarten wollte, Zeter und Mordio geschrien und sogar geheult hat. Da hätte ich selbst mit aller Konsequenzen und Härte nichts ausrichten können, auch wenn ich im ersten Impuls oft erst mal etwas verzweifelt und wütend ob der plötzlichen und außerplanmäßigen Weigerung war. Aber wenn ICH es dann geschafft habe, mich wieder zu beruhigen, meinem Kind nicht mit Widerstand sondern mit Verständnis zu begegnen, sie zu trösten und ernst zu nehmen, statt sie unter Druck zu setzen, und wenn irgend möglich auf ihre Forderung einzugehen - sprich Kindergarten oder Training an diesem Tag dann eben mal ausfallen zu lassen (dieses Privileg hatte ich gsd meistens), dann hat sie da so unglaublich dankbar und erleichtert drauf reagiert und sich umgekehrt sofort wieder mit größtmöglicher Kooperationsbereitschaft bedankt. Weil sie WIRKLICH einen Grund hatte, warum sie nicht wollte. Und weil es ihr gut tat zu sehen, dass ich sie ernst nehmen und im Zweifelsfall auf IHRER Seite stehe.
Und was das Beispiel mit dem Klettern betrifft: Ich rede von MEINEN persönlichen Grenzen, die freilich ganz woanders liegen als bei anderen Müttern. Wenn mein Kind mich ohne Vorwarnung von hinten anspringt, mit inzwischen über 20 Kilo auf mir rumklettert, mir dabei in die diversen Weichteile tritt, ich mich kaum noch aufrecht halten kann und vor Kreuzschmerzen losheulen möchte, dann KANN ich da keine Rücksicht auf mein Kind nehmen. Das ist ein Moment in dem sie auf MICH Rücksicht nehmen muss. Ja muss! ich bin auch nur ein Mensch. Und in dem genannten Beispiel geht es um sehr konkrete, körperliche Grenzen, darum dass sie mir weh tut und meine Kraft nicht ausreicht (wir hatten schon ein paar solcher Situationen, deshalb erwähne ich das hier). Da reagiere ich dann auch einfach nur noch, ganz ohne pädagogischen Hintergedanken, und lasse einen lauten und deutlichen Brüller fahren, dass sie SOFORT von mir runter soll! Wenn mir jemand mit dem Absatz auf die Zehen tritt, "erdulde" ich das ja ganz sicher auch nicht!
Aber Trin, wenn an dir ein vielleicht etwas kleineres und leichteres Kind herumklettert und du dabei sogar noch in der Lage bist, weiter zu lesen, dann ist das doch ok. Wenn du für dich entscheidest, dass du das grad akzeptieren kannst, dann tu es. Ich unterstelle niemandem, dass er zu schwach wäre, notwendige Grenzen zu ziehen und ich sage auch nicht, dass alle Eltern die gleichen Grenzen ziehen müssen. Ich rede davon, die eigenen Grenzen wahr und ernst zu nehmen. Und es ist dein gutes Recht dich zu wehren, wenn deine Kinder zu weit gehen. Nicht mehr und nicht weniger. Ich habe z.B. überhaupt nichts dagegen, wenn meine Tochter auf dem Sofa hüpft. Andere Eltern kriegen da die Krise. Ich werde allerdings nervös, wenn meine Tochter beim Spielen ständig gegen die Wand donnert (das dröhnt durchs ganze Haus) und gehe dazwischen. Für andere Eltern ist das normaler "Kinderlärm", die nehmen das schon gar nicht erst zur Kenntnis.
Wie gesagt, menschen sind verschieden, Eltern auch. Jeder hat andere Grenzen, andere Dinge die ihm wichtig sind oder ihn stören. Im Zusammenleben mit den eigenen Kindern gilt es, diese Grenzen - die eigenen und die des Kindes! - herauszufinden, auszuloten ob und welche Grenzen evtl. verschiebbar sind (das was Trin mit "weiterentwickeln" meinte) und Wege zu finden, wie alle Beteiligten die Grenzen des jeweils anderen möglichst wahren können.
Und ja, Kiwi, du hast recht, ich kann mich in das Zusammenleben mit einem autonomen Kind wirklich nur schwer hinein versetzen. Mir begegnen solche autonomen Menschen (Erwachsene) auch im Alltag manchmal und ich komme meist nur schwer bis gar nicht mit ihnen zurecht. Für mich wäre es wohl die größtmögliche Herausforderung - oder die größtmögliche Katastrophe - wenn ich ein solches Kind hätte.
So wie du deine Große beschreibst, klingt sie nach einem unglaublich pfiffigen, klugen, starken Kind, was ich absolut positiv finde. Ich wäre stolz auf ihre Argumentationsfähigkeit und die Fähigkeit, Dinge zu durchschauen und zu hinterfragen. So weit, so toll. Sobald diese Autonomie aber in Egoismus und Rücksichtslosigkeit umschlägt, bekomme ich allerdings Probleme. Erst recht wenn noch andere Familienmitglieder vorhanden sind, die darunter leiden.
Im Alltag mit einem solchen Kind würde ich aber wohl sicher sehr schnell ein Gespür dafür bekommen, wie viel Kooperation, Entgegenkommen und Rücksichtnahme sie zu leisten in der Lage ist - und das auch entsprechend honorieren. Sie wird wohl kaum 24/7 mit dem Kopf durch die Wand wollen (oder doch???), sondern auch "nachgiebigere" Momente haben.
Mir sind Fähigkeiten wie Empathie, Rücksichtnahme, Respekt und Toleranz anderen gegenüber sehr wichtig. Wichtiger sogar als Durchsetzungsvermögen, um ehrlich zu sein. Ich bin auch selbst ein eher nachgiebiger, harmoniebedürftiger und konfliktscheuer Mensch. Deshalb sage ich ja, dass ich mit einem sehr willensstarken, autonomen Kind, das regelmäßig meine Grenzen und die der anderen verletzt, große Probleme hätte. Aber sofern sie von Haus aus mit einem Frontallappen im Gehirn ausgestattet ist (das Empathiezentrum im Gehirn), sehe ich durchaus Möglichkeiten, auch einem autonomen Kind so etwas wie Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen und Teamfähigkeit zu vermitteln. Auf welche Weise das allerdings gelingen kann, da gibt es sicher kein Pauschalrezept.
Ich persönlich neige dazu, sehr vieles zu verbalisieren. Auch das funktioniert garantiert nicht bei jedem Kind und schon gar nicht immer. Ich darf auch keine unmittelbare Reaktion oder "Erfolg" erwarten. Aber im Normalfall sind Kindern ihre Eltern wichtig und sie interessieren sich auch für deren Meinung. Dass, was Eltern zu ihren Kindern sagen, kommt fast immer auch an, und wird auf die eine oder andere Art auch "verarbeitet".
Wie gesagt: Jede Familie hat ihre ganz eigenen Herausforderungen und ihre ganz eigenen Wege, damit umzugehen. Wenn sich euer Weg für euch und für eure Kinder gut und richtig anfühlt, dann seid ihr zu beglückwünschen, egal was Außenstehende sagen oder denken oder vermeintlich anders bzw. besser machen würden. Wenn aber das Gefühl überwiegt, dass das Gleichgewicht in der Familie nicht mehr funktioniert und dass einer oder mehrere beteiligte Familienmitglieder leiden, dann muss man zwangsläufig darüber nachdenken, was man ändern kann, damit es allen Beteiligten wieder besser geht.
Übrigens, weil supergreen was von "Jähzorn" schrieb: Ich war selbst so ein jähzorniges Kind, hatte als kleines Kind teilweise üble Aussetzer, wenn ich in Rage (oder besser gesagt: an meine Grenzen) geriet. Bei mir war das aber nicht Teil meiner Persönlichkeit oder Ausdruck meiner eigenen Autonomie. Ich war nie ein übermäßig willensstarkes Kind. Oder vielleicht wäre ich eines gewesen, aber mein Vater lies das nicht zu. Bei mir waren diese Ausbrüche Ausdruck purer Verzweiflung und Hilflosigkeit gegenüber der extremen Willensstärke meines Vaters. Das Gefühl "falsch" zu sein und nicht verstanden zu werden hat in mir eine Art "Selbsthass" ausgelöst, die sich in massiven Wutanfällen und aggressivem, teilweise gewalttätigem Jähzorn und sogar Selbstverletzungen geäußert hat. Wenn man es mit einem solchen Kind zu tun hat, sollte man einen derartigen Hilferuf tunlichst ernst nehmen und nach Hilfe suchen bzw. das eigene Verhalten überdenken. Was ich DRINGEND gebraucht hätte, wäre ein kooperativer und einfühlsamer Vater gewesen. Vielleicht reagiere ich auch deshalb so sensibel auf dieses Thema ...