Ich bin selber Zahnärztin. Natürlich kann man Milchzahnkaries unbehandelt lassen. Im günstigsten Fall stirbt die Pulpa ohne grössere Schmerzen (der Zahnnerv, das Bindegewebe und die Blutgefässe, die sich alle im Zahnkern befinden) ab und es bildet sich eine Fistel. Eine Fistel ist ein Gang, der von einer Entzündung im inneren des Gewebes, in diesem Fall eine Entzündung an den Wurzelspitzen des Milchzahns, nach aussen führt und das Sekret und den Eiter von dieser Entzündung nach aussen ableitet. So eine chronische Entzündung an den Zahnwurzelspitzen schmerzt meistens nicht.
Nun kann es aber sein, dass so eine chronische Entzündung in eine akute Entzündung übergeht, zum Beispiel wenn das Immunsystem geschwächt ist, dann bildet sich mehr Sekret, das nicht mehr alles abfliessen kann, der Druck in der Entzündung nimmt zu, der Bereich schwillt an, es entstehen Schmerzen, es entwickelt sich ein Abszess.
Da so ein Abszess sehr schmerzhaft ist und die Anästhesie in entzündetem Gewebe wegen verändertem pH-Wert nicht gut wirkt, kann akut nur unter Festhalten und unter grossem Stress für alle Beteiligten behandelt werden. Die Behandlung sähe die Entfernung der Ursache für diese Entzündung, also die Entfernung des abgestorbenen und infizierten Gewebes im Zahnkern (Wurzelbehandlung, bei Milchzähnen vereinfacht im Vergleich zu bleibenden Zähnen), die Einlage einer desinfizierenden Crème und den dichten Verschluss des Zahnes unter vorheriger Entfernung allen kariösen Gewebes vor. Da wie gesagt so eine Behandlung im akuten Stadium fast nicht machbar ist, wird zuerst ein Antibiotikum verabreicht, das die Entzündung behandelt, und dann so eine Woche später, wenn die ganze Region nicht mehr so schmerzhaft ist, wird dann der Zahn wie oben beschrieben behandelt.
Wenn so ein Abszess von den Eltern nicht ernst genommen wird, obwohl das Kind da bereits grosse Schmerzen hat, kann er sich ausbreiten entweder in Richtung Hirn oder in Richtung Herz, was lebensbedrohlich ist und im Spital weiterbehandelt werden muss. Solche Kinder hab ich auch schon gesehen ...
Im Normalfall tritt so eine Abszessentwicklung dann auf, wenn das Immunsystem geschwächt ist, und meistens natürlich am Wochenende, über die Feiertage, in den Ferien ... Wenn mein Kind solche unbehandelten Zähne mit chronischen Entzündungen an den Wurzelspitzen aufweisen würde, würde ich zum Beispiel nie ohne Antibiotikum in die Ferien fahren ...
Der andere Grund, warum kariöse Milchseitenzähne behandelt werden sollten, ist ihre Funktion als Platzhalter für die bleibenden Zähne. Zähne haben immer die Tendenz, sich gegenseitig zu berühren und zwar immer in Richtung nach vorne. Mit sechs Jahren ungefähr bricht der erste bleibende Milchbackenzahn hinter der Milchzahnreihe durch. Wenn zu diesem Zeitpunkt Milchzähne fehlen, rutscht er einfach weiter nach vorne, bzw. kippt weiter nach vorne, bis zum nächsten Milchzahn. Mit ungefähr neun Jahren fangen dann aber die bleibenden Vorbackenzähne und Eckzähne an durchzubrechen. Wenn jetzt so ein bleibender Backenzahn vorgerutscht ist, und das macht er übrigens auch schon, wenn zwar alle Milchbackenzähne noch da sind, aber wegen Karies von ihrer Breite eingebüsst haben, entsteht zwangsläufig ein Platzmangel, den der Kieferorthopäde dann versuchen darf aufzulösen ...
Natürlich behandle ich keine Milchzähne mehr, wenn das Kind so acht oder neun Jahre alt ist, und so lange sie nicht schmerzen, weil die ja dann bald ausfallen, aber vorher lohnt sich da schon, meiner Meinung nach.
Natürlich kann man solche fisteligen Zähne unbehandelt lassen, aber dann muss man einfach wissen, dass das Kind an dieser Stelle immer eine chronische Entzündung hat, und das diese Entzündung eine "Zeitbombe" ist. Wenn man Glück hat, passiert die nächsten Jahre lang nichts, wenn man Pech hat, steht man am 25.12. in irgend einer zahnärztlichen Notfallpraxis ...
Bei einem 2-jährigen Kind sehe ich wirklich keine andere Behandlungsart als diejenige in Vollnarkose. Die Narkose hinauszögern bis das Kind etwas älter ist kann man versuchen, indem man so alle drei Wochen die kariösen Stellen in der Praxis fluoridieren lässt ...
Die Röntgenbilder werden angefertigt, damit der Zahnarzt weiss, ob die bleibenden Zähne angelegt sind, oder nicht. Ist einer davon nämlich nicht angelegt, muss der betreffende Milchzahn unter allen Umständen erhalten werden, und Füllungen da dran müssen ganz besonders sorgfältig ausgeführt werden, da dieser Milchzahn aller Wahrscheinlichkeit nach nicht oder später ausfallen wird.