Disclaimer:
Alles, was ich jetzt schreibe, ist eine Zusammenfassung unserer langjährigen Erfahrung mit familiär gehäuft vorkommender LRS, gepaart mit Wahrnehmungsstörungen und anderen Besonderheiten.
Vieles ließe sich mit Literatur belegen, aber für so umfassende Informationen fehlt es mir aktuell an Zeit und Nerven.
Was ist überhaupt LRS?
Rein diagnostisch ist es erst mal eine deutliche Abweichung nach unten von der Rechtschreibleistung, die nach Schulbesuchsjahren und IQ zu erwarten ist.
An dieser Stelle werden keine Aussagen zu den besonderen Schwierigkeiten des einzelnen Kindes/Erwachsenen gemacht und man kann aus dieser Testung auch kein Förderkonzept ableiten.
Wie funktioniert überhaupt Lesen und Schreiben?
Lesen und Schreiben sind sogenannte Kulturtechniken. Sie basieren auf einer kulturellen Konvention, d.h. Vereinbarung, und vielen, oft nicht klar umgrenzten Regeln.
Da wir Sprache verschriftlichen, ist während des Leseprozesses ein ständiger Abgleich der visuellen Wahrnehmungverarbeitung mit der auditiven Verarbeitung (im speziellen der phonologischen Bewusstheit, die sich auf die Wahrnehmung bestimmter Lautstrukturen bezieht phonologische Bewusstheit in Wikipedia ) notwendig.
Die Struktur ist an diesem Punkt also: Buchstabe-Lautbeziehung bzw. Graphem-Phonem Zuordnung, Silben, Wörter, Sätze, Texte
Wie man hier schon sieht, ist das selbst bei normaler Entwicklung eine wahnsinnige Leistung des menschlichen Gehirns. Viele dieser Prozesse laufen intuitiv ab, obwohl sie rein erlernt sind.
Außerdem nutzen wir geübten Vielleser mehrere visuelle Lesetechniken gleichzeitig. Neben dem Buchstabeweise-erlesen von fremden Wörter, erfassen wir häufige Wörter als ganzes Wortbild. Außerdem beherrschen wir die Technik des "Überfliegen" des Textes, lesen also gar nicht unbedingt jedes Wort, um den ungefähren Sinn des Textes zu erfassen.
Welche möglichen individuellen Schwierigkeiten kann es geben?
- visuell
- Sehschärfe
- Blickmotorik (können beide Augen gleichzeitig einen Punkt fixieren und der Zeile folgen? Ist die Blickrichtung von links nach rechts? Sind die Blicksprünge (Sakkaden) sinnvoll oder gibt es viele Rücksprünge?)
- gespiegelte Buchstaben (besonders b,d,p,q )
- auditiv
- akustische Hörprobleme (Paukenergüsse, Hörbeeinträchtigung)
- phonologische Bewusstheit (können Reime und Sprachrhythmus erkannt werden? Gibt es sprachliche Lautverwechslungen oder Aussprachefehler? Können Quatschwörter nachgesprochen werden? Existiert eine Verknüpfung zwischen Laut und Mundmotorik?)
- auditive Merkfähigkeit
- motorisch
- Blickmotorik
- Mundmotorik
- Körperkoordination (es schein einen Zusammenhang zwischen der Statomotorik und der Sprachentwicklung allgemein zu geben, aber auch einen Einfluss auf die Blickmotorik (Kopfhaltung) sowie das räumliche Vorstellungsvermögen, das wiederum Auswirkungen auf die visuelle Wahrnehmungsverarbeitung hat)
Ich denke, mein Kind hat ein Problem, aber die Lehrer/Ärzte/Therapeuten finden alles ok. Was soll ich tun?
- Augenarzttermin
- Hals-Nasen-Ohren-Arzt (möglichst Pädaudiologe)
leider ist dann noch nicht endgültig ausgeschlossen, dass es Probleme mit der Wahrnehmungverarbeitung gibt.
Dafür gibt es speziellere Tests beim
- Kinder-und Jugendpsychiater zu sprachlichen Vorläuferfähigkeiten und visuellen Wahrnehmung (Frostings Entwicklungstests zur visuellen Wahrnehmung)
- Ergotherapeuten zur visuellen Wahrnehmung, Statomotorik
- Logopäden/Sprachheiltherapeuten zur phonologischen Bewusstheit
Die Diagnostik dauert so lange/ lässt sich nicht durchführen. Was kann ich jetzt tun, um meinem Kind zu helfen?
- informelle Lernstandsanalyse
Welchen Lernschritt beherrsch mein Kind sicher? Dabei etwa ein bis 2 Stufen tiefer einsteigen, als man denkt. Werden in der Schule also Wörter gelesen, versucht man es erst mal mit Buchstaben, dann mit Graphemen wie ch, sch, st.
Material gibt es z.B. beim Lesekoch oder beim Bildungsserver Brandenburg - Lerntherapeuten (online) suchen
wenn man sich die Förderung selber nicht zutraut. Die Wartelisten sind allerdings oft lang. Es gibt eine rabige kostenpflichtige Elterncommunity, in der man individuell gecoacht wird und auf jede Menge Material zurückgreifen kann, aber eben auch auf den Support anderer Eltern und mehrerer Lerntherapeuten- Therapie vor Ort muss vom (Jugend-) Amt finanziert werden, wenn es ein ärztliches Gutachten mit dem Verweis auf §35a SGB VIII und einer gravierenden seelischen Störung gibt
Was, wie, wie lange und wann sollte ich mit meinem Kind üben?
Das ist abhängig von der vorhergegangen Analyse.
Grundsätzlich gilt aber: erst die Lesegenauigkeit trainieren, die Geschwindigkeit kommt von alleine
- Graphem-Phonem-Zuordnung: einzelne Buchstaben auf Karteikarten schreiben oder mit Intraact plus trainieren
In dieser Phase sollte darauf geachtet werden, dass die Kinder noch nicht die Ganzwortmethode anwenden, weil sie sonst anfangen zu raten, statt zu lesen. - Silben: Silbenteppiche, Silben auf einzelnen Kärtchen, es finden sich auch Laufspiele mit Pöppeln und Würfeln im Internet, Memory, Übungshefte von Gero Tacke
- für Wörter gibt es fertige Karteikarten aus dem AOL Verlag, Wort-Bild Zuordnungsspiele neben Memory und Domino gibt es oft zum kostenlosen Download
Können jetzt fremde Wörter problemlos erlesen werden, lässt sich die Lesegeschwindigkeit durch das Training der Ganzwortmethode steigern. Stichwort: Blitzlesen (gibt es auch als Webanwendung oder App) - Sätze: Schnitzeljagd durchs Haus, einfache Quizspiele z.B. Bärenstark und Mauseschlau aus dem Ravensburger Verlag, Haba Lesepolizei, Lachen lachen
- Texte: Lesen das Training ab Klasse 2/3
Wie?
Siehe Beispiele oben: gerne mit Spielen, weg von dem üblichen schulischen Format mit Arbeitsblättern und so, dass das Kind sich nur wenig anstrengen muss
Lesen lernen ist ein Marathon und sowohl Lernbegleiter (Eltern) als auch Kinder müssen sich ihre Kräfte gut einteilen.
Kommt Frust auf, lieber eine Stufe tiefer wieder einsteigen oder ein paar Tage Pause machen.
Lieber mehrfach täglich ein paar Minuten trainieren, als einmal lange
4x5 min pro Woche bringen meist mehr, als einmal pro Woche 45 min
Von Übungen mit Spiegelschrift, Wortschlangen oder ähnlichem würde ich Abstand nehmen, solange fremde Wörter nicht sicher und schnell erlesen werden.
Diese Übungsmethoden dienen dem Training der Ganzwortmethode
Es scheint Schwierigkeiten mit der visuellen Wahrnehmung zu geben. Was kann ich tun?
- Text abdecken, so dass nur die aktuelle Zeile sichtbar ist
- Lesestein, der die aktuelle Zeile vergrößert
- Leselineal, dass auch die Leserichtung durch eine Pfeil markiert
- bei selbsterstelltem Material: auf eine LRS-freundliche Schrift (ohne Serifen) evtl. spezielle LRS-Schriften zurückgreifen (es gibt Untersuchungen, dass Schriften mit größerem Abstand zwischen den einzelnen Buchstaben besser gelesen werden können), Zeilenabstand vergrößern
- eventuell silbierte Schrift in rot-blau (es gibt Hinweise auf eine unterstützende Wirkung) Silbengenerator
Achtung: Sprechsilben sind oft keine Schreibsilben. Das kann zu Verwirrung führen - auf guten Kontrast achten: reinweißes Papier verwenden, schwarze Schrift oder bei Silbierung rot-blau
Was und wie trainiere ich, wenn die Leserichtung/ Blicksteuerung Probleme macht?
- Im Alltag darauf achten, dass alle Tätigkeiten von links nach rechts ausgeführt werden
z.B. Kartoffeln schälen: links liegen die ungeschälten Kartoffeln, in die Mitte kommen die Schalen, der Topf für die fertigen Kartoffeln steht rechts - Labyrinthe aus Vorschulheften: Achtung: die visuelle Herausforderung kann stark variieren
- Übungen aus Lesen-das Training grünes Heft
- eventuell ein Besuch beim Funktions-Optometristen oder Ergotherapeuten
- Spiele in 3D zur Raum-Lage Zuordnung: z.B. Make n Break
Was mache ich mit den Hausaufgaben?
- ignorieren (geht leider meist nicht)
- mit der Lehrperson sprechen, ob die Aufgaben angepasst werden können (Unterstützung durch einen Therapeuten)
- so viel Unterstützung anbieten, wie nötig: Vorlesen der Aufgabenstellung, den Finger mitführen, Leselineal, die Hausaufgaben einfach für das Kind erledigen (es kann keinen sinnvollen Lernerfolg haben, wenn die Aufgabe einfach noch nicht machbar ist)
Ich schicke das jetzt mal so ab und würde mich über Ergänzungen und Diskussion freuen!
LG
Brina Berlind